Liebe ist stärker als der Tod
Wand lehnt, sich krümmt und trotzdem noch immer um sich schlägt. Sie war so fertig, daß sie gar nicht merkte, daß sie wieder allein war. Ich schnappe sie mir, schleppe sie zum Wagen und ab nach Hause.« Er rauchte hastig und blies den Qualm an die Decke. »So etwas am hellen Tag! Vierzig Meter vom Quai de Montebello entfernt! Sie war nicht allein, Pierre, es waren noch andere auf der Straße. Große kräftige Männer – und die stehen da und scheißen sich die Hosen voll und rühren keine Hand. ›Feige Schweine!‹ habe ich sie angebrüllt, und was antworten sie, fast im Chor: ›Sollen wir uns zusammendreschen lassen?‹ Später habe ich die drei gesehen. Auf ihren Motorrädern fuhren sie grölend den Boulevard Saint Michel hinab.«
»Ev …«, sagte Pierre leise. Er streichelte ihr Gesicht, küßte ihre eingesunkenen Augen, legte seine Lippen auf ihren geschwollenen Mundwinkel. »O Ev … Ev … was haben sie mit dir getan?« Dann zuckte er zurück und stierte Madame Coco wie wild an. »Warum ruft denn keiner einen Arzt?« schrie er.
»Nicht einen Arzt … wozu denn?« Ev hob die Hand und winkte Madame zu, die zitternd zum Telefon griff. »Es ist doch nichts passiert. Sie haben mir nichts getan, nur einen Schlag auf den Mund …« Sie versuchte zu lächeln. Es wurde nur ein Verzerren der Lippen.
»Noch heute abend habe ich die Adresse von ihrem Stammlokal«, sagte Wladimir Andrejewitsch. »Drei Kollegen haben die Verfolgung aufgenommen. Wir werden wissen, wo die Wölfe ihren Bau haben.«
»Was nützt uns das?« sagte Pierre. Er wusch mit einem Lappen und heißem Wasser Evs Gesicht. Bouillon saß neben ihm und leckte ihre herunterhängende Hand.
»Wir sind zweiundvierzig Russen!« Fürst Globotkin warf seine Zigarette in den Ofen, als Madame gerade Kohlen auffüllte. »Wir Russen wissen, wie man mit Wölfen umzugehen hat.«
Es schien wirklich nur ein Schock zu sein. Nach einer halben Stunde konnte Ev die Treppe hinaufgehen und sich ins Bett legen. Sie schaffte es ohne Hilfe und lachte Pierre und Wladi aus, die sie hinauftragen wollten. Dann lag sie auf dem Rücken, tastete unter der Bettdecke über ihren Leib und schüttelte den Kopf, als Bouillon wieder leise zu winseln begann. Sein Urinstinkt signalisierte ihm die Gefahr.
»Sei still, Bouillon –«, sagte sie leise. Pierre wirtschaftete in der Küchenecke und verstand sie deshalb nicht. »Verrate mich nicht … Es ist besser so für uns alle –«
In der Nacht begannen die Schmerzen. Und Ev begann zu bluten.
Als der Krankenwagen sie abholte, krümmte sie sich, und Madame kniete vor ihr und drückte ihr ein ganzes Paket Watte zwischen die Schenkel. Es war nicht mehr einzudämmen … ihr Blut floß über Madames Hände, als sei in ihr ein Damm gebrochen.
»Ich liebe dich –«, sagte Pierre. »Ev, ich liebe dich … Es gibt nichts auf dieser Welt, das ich mehr liebe als dich …«
Der Krankenwagen schleuderte um die Ecken und quietschte auf dem nassen Asphalt. Das Blaulicht drehte sich und die Sirene gellte durch die Nacht.
Wie endlos können Straßen sein, wie mondfern kleine Zwischenräume, wie unüberwindbar unscheinbare Entfernungen.
Das Hôpital Laennec lag an der Rue de Sèvres. Ein paar Straßen nur von der Rue Princesse … über die Place St. Sulpice, die Rue de vieux Colombier entlang, links ab am Croix Rouge, hinein in die Rue de Sèvres … Nur ein paar Straßen … aber wie endlos, wie endlos, wie endlos, Ev –
»Ich liebe dich –«, sagte er wieder, und plötzlich legte er sein Gesicht in ihre schlaffe Hand und begann zu weinen. »Ich kann nur leben, wenn du bei mir bleibst …«
*
Eine ganze Stunde arbeiteten die Ärzte an Ev herum. Eine Stunde, die für Pierre nie zu Ende ging. Eine Stunde, in der er zum erstenmal begriff, was Ewigkeiten sein können und was ein Philosoph damit meinte: Die Hölle ist in uns!
Eine Schwester hatte ihn in ein Zimmer gesperrt, das eine Scheibe zu dem breiten Flur hatte. Am Ende des Flures schloß eine gläserne Schwingtür, in Gummi gelagert, eine andere Welt ab. Eintritt verboten – stand auf den Milchglasscheiben, und ›Operations-Abteilung‹. Eine seltsame Stille herrschte auf diesem Flur, ein Schweigen wie in einer Grabkammer. Man spürte die Nähe des Todes, der hinter dieser Glastür in fünf Operationssälen zu Hause war, über die Schulter der Chirurgen blickte und wartete … wartete … wie Pierre de Sangries, den man in das Zimmer gesperrt hatte mit dem lapidaren Satz: »Sie werden
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