Liebe ist stärker als der Tod
beruhigen.«
»Sie hat Sie … Ev hat Sie …« Pierre wischte sich mit beiden Händen über das zuckende Gesicht. Es war, als griffe er in einen See. »Sie lebt –«
»Natürlich lebt sie. Es geht ihr gut. Sicher, sie hat Blut verloren … kein Anlaß zur Besorgnis. Wir haben ihr zwei Infusionen gegeben. Es hat etwas länger gedauert, weil die Placenta uns einige Mühe machte. Sie verstehen, Monsieur …«
»Nein …«, stotterte er. »Nein. Ich verstehe gar nichts.«
»Das Kind konnten wir nicht retten. Leider –«
»Das Kind.« Er nickte wie eine lächerliche Spiralhalspuppe. »Das Kind –«
»Ein Junge …«
»Ein Junge …«, wiederholte Pierre.
»Sie sind ja beide noch so jung. Sie können noch zehn Kinder bekommen.« Der Arzt lächelte. Er hatte etwas Gutes, Tröstliches und Wahres gesagt und glaubte, daß es den Mann beruhigte. »Mademoiselle ist in drei Wochen wieder ganz in Ordnung. Nur, Monsieur –«, der Arzt lächelte wieder, diesesmal von Mann zu Mann – »ich würde für die nächsten zwei Monate etwas Schonung empfehlen. Sie verstehen?«
»Ich verstehe, Doktor.« Pierre atmete tief durch. »Kann ich Ev sehen?«
»Selbstverständlich.« Der Arzt musterte Pierre mit deutlicher Kritik. Das bisher Joviale war verdrängt, der Mann war beruhigt, man konnte zum interessanteren Teil der Unterredung kommen. »Wie ist das – Unglück passiert, Monsieur? Der Abortus ist durch ein Trauma durch die Bauchdecke erfolgt. Die Haut zeigte deutliche Verfärbungen. Hämatome. Wie nach einem Schlag oder einem Tritt. Hatten Sie eine heftige Auseinandersetzung mit Mademoiselle?«
»Ich?« Pierre lehnte sich gegen die Wand. Er spürte Schwäche in seinen Beinen und hatte trotzdem eine unbändige Lust, dem Arzt voll ins Gesicht zu schlagen. Doch dann beruhigte er sich. Er weiß es ja nicht anders, woher soll er es auch wissen? Sie hat Hämatome in der Bauchdecke. Er kann ja nicht anders fragen. »Trauen Sie mir das zu, Doktor?« fragte er schwach.
»Wir Ärzte haben uns das Wundern abgewöhnt. Wir werden täglich mit Überraschungen konfrontiert.«
»Man hat Ev überfallen –«, sagte Pierre. »Am hellen Tag. Mitten in Paris. Auf der Straße. Und keiner kümmerte sich darum. Die Leute gingen einfach weiter …«
»Unmöglich.« Der Arzt nahm seine goldeingefaßte Brille ab und putzte sie mit einem Zipfel seines grünen OP-Mantels. Obwohl er keinen Grund hatte, schien er sich für die anderen Menschen zu schämen. »Da greift man doch ein …«
»Würden Sie sich drei mit Fahrradketten und Schlagringen bewaffneten Rockern gegenüberstellen, Doktor?«
Der Arzt schwieg betroffen. Dann sagte er etwas lau: »Ja, ja, die Brutalität heute. Das Erbe des Krieges …«
»Der Krieg ist 28 Jahre her, Doktor. Damals lebten die Rocker noch gar nicht. Es ist das Erbe Ihrer Generation! Das Rülpsen Ihrer Sattheit! Die Bequemlichkeit der Dickgewordenen, die sagen: Nun laßt uns in Ruhe. Wir haben genug geschafft. Wir haben den Krieg überlebt, wir haben die Trümmer aufgebaut, wir haben der Welt ein anderes Gesicht gegeben. Nun laßt uns verdauen! Ein Gesicht der neuen Welt haben Sie heute auf dem OP-Tisch gehabt …« Er konnte nicht mehr weitersprechen und wischte sich wieder den kalten Schweiß aus dem Gesicht. »Sie haben Ev in den Leib getreten, Doktor … vor allen Leuten, am hellen Tag … sie wollten ihre goldene Kette haben und das Kreuz, das sie um den Hals trug, und sie wehrte sich dagegen … Darf man sich nicht mehr wehren, wenn ein anderer etwas haben will, das einem gehört?«
»Beruhigen Sie sich, Monsieur –«, sagte der Arzt betreten. »Es ist ja noch einmal gutgegangen. Keine weiteren inneren Verletzungen, die Milz ist verschont geblieben, in drei Wochen ist Mademoiselle wieder auf den Beinen … Nur das Kind … leider –« Er hob die Schultern. Dann gab er Pierre die Hand, drückte sie in einer Art Kameradschaft und ging aus dem Zimmer. An der Tür sagte er noch einmal: »Sie können zu Mademoiselle gehen. Zimmer 247, glaube ich. Zweiter Stock. Fragen Sie die Stationsschwester Amélie …«
Später saß Pierre an Evs Bett und war der nette, fröhliche Bursche wie immer. Es war ein schweres Spiel, er wunderte sich, daß er dazu überhaupt fähig war, aber wider Erwarten gelang es ihm so glatt, daß er sich innerlich über sich selbst schämte. Wie widerlich man lügen kann, dachte er. Aber ich habe es ja gelernt … ich mußte mit sechs Jahren einen hündischen Jammerblick üben, und mit sieben
Weitere Kostenlose Bücher