Liebe kommt auf sanften Pfoten
in ihrem Inneren wusste sie jedoch, dass dies nicht stimmte. Ihre Liebe zu Toby war die gleiche, die sie Peter gegenüber empfand, nur war diese Liebe um ein Vielfaches stärker. Diese Neubewertung der Welt nach der Geburt war eine gute Entschuldigung, aber sie entsprach einfach nicht der Wahrheit. Louises nüchterner Juristenverstand konnte exakt den Zeitpunkt bestimmen, als ihre Welt aus den Fugen geraten und in ein Geflecht aus Geheimnissen und Zweifeln abgeglitten war. Irgendwann hatte ihr Leben nur noch aus Lügen und einem Verhalten bestanden, von dem sie nur schwerlich begreifen konnte, dass sie diese Person sein sollte.
Es war der Tag gewesen, an dem ihre Schwester sie angerufen und ihr erklärt hatte, dass Ben, der braun gebrannte, Cider-trinkende, lebenslustige Ben, der in der Schule zwei Klassen unter ihr gewesen war, an einem Herzinfarkt gestorben war. Dies war der Katalysator gewesen, der alles Weitere ausgelöst hatte.
»Louise«, murmelte Peter, »mach dich mal locker.«
Sie merkte, dass sie den linken Arm krampfhaft an ihre Seite presste, damit er ihr das T-Shirt nicht über den Kopf ziehen konnte. Sie wollte nicht, dass Peter sie berührte, dass seine Hände über ihre Haut strichen – falls irgendetwas an ihr sie verraten sollte und er plötzlich merkte, dass sie ein anderer Mensch geworden war.
Louises Magen rebellierte. Diese mentale Krise machte ihr Angst, da sie ihr ganzes Leben lang ihren Gedanken und Empfindungen mit einer geradezu analytischen Präzision auf den Grund gegangen war. Ein weiteres Baby könnte Peter und sie wieder zusammenschweißen; Toby hätte ein Geschwisterchen zum Spielen; es wäre ein Neubeginn; sie konnten sich einen Familienzuwachs glücklicherweise leisten. Vielleicht würde sie sogar ein kleines Mädchen bekommen. Andererseits könnte sie dann wieder eine Zeit lang nicht arbeiten, was einen Rückschritt bedeuten würde. Louise hatte den Blick starr nach vorn gerichtet. Es gab keinen Weg zurück.
»Louise«, wiederholte Peter eindringlich, und sie merkte, wie seine gute Laune allmählich dahinschwand.
Komm schon, ermahnte sie sich. Du musst dich nur darauf einlassen und ihm etwas vorspielen. Du kannst das hier nicht zu einem dauerhaften Verhaltensmodell werden lassen.
Sie bewegte den Arm und ließ zu, dass Peter ihr über den Rücken streichelte. Dann knackte es, und aus dem Babyfon ertönte ein gedämpftes Glucksen, das sich erfahrungsgemäß gleich in ein ausgewachsenes Wutgeschrei verwandeln würde. Louise schämte sich für die Erleichterung, die sie überkam.
»Tut mir leid«, erklärte sie und zog sich das T-Shirt mit einem reuigen Lächeln wieder über. »Ich habe das irgendwie schon geahnt. Es wäre auch zu schön, um wahr zu sein.«
Peter seufzte und ließ sich nach hinten aufs Sofa fallen. »Was meinst du – ist er noch zu klein, um bei deinen Eltern zu schlafen?«
»Auf jeden Fall«, erwiderte Louise. »Ich kümmere mich darum. Sollen wir eine DVD anschauen? Such schon mal eine aus, ich bin in einer Minute wieder unten.«
»Prima«, erwiderte er lustlos und griff nach der Weinflasche.
Louise biss sich auf die Lippe. Im Augenblick konnte es noch warten. Aber allzu lange durfte sie sich nicht mehr Zeit lassen.
6
W enn mein Anruf ungelegen kommt, melde ich mich später noch einmal«, erklärte Ruth.
Bens Mutter sagte dies immer zu Beginn eines ihrer langen Telefonate, meinte es aber nie wirklich ernst. Juliet hatte ein einziges Mal versucht, sie zu bitten, es später noch einmal zu versuchen, weil ihre eigene Mutter gerade zu Besuch war. Ruth hatte daraufhin so laut losgeschluchzt, dass selbst Minton sie gehört hatte und völlig verängstigt in den Garten geflohen war. Juliet hatte das letzte Quäntchen Stärke und Beherrschung aufbringen müssen, um Ruth davon zu überzeugen, dass sie sich wirklich mit ihr unterhalten wollte.
Juliet hatte keine Ahnung, woher sie diese Stärke genommen hatte, um die dann folgende stundenlange Auflistung von Bens wunderbaren Eigenschaften, seinen witzigen Sprüchen und anderen Erinnerungen an ihn zu ertragen, die Ruth so dringend mit ihr teilen wollte, damit wenigstens ein Teil von ihrem Sohn lebendig blieb.
Das Problem dabei war nur, dass Juliet nicht über Ben reden wollte. Vielmehr zog sie es vor, an ihn zu denken . All das Gerede über ihn erinnerte sie nur daran, dass er fort war und nicht mehr wiederkommen würde. All diese Vergangenheitsformen, unter die sich gelegentlich ein Präsens mischte, das sie
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