Liebe, lebenslänglich
Vater werden wie seiner. Und das nicht nur, weil er offensichtlich ein anderer war, sondern auch, weil er während seines Biologiestudiums gute Lehrmeister für den Umgang mit Kleinkindern gehabt hatte: »Bei den Makaken kann man das Bindungsverhalten wunderbar studieren.«
Der Beschäftigung mit Tieren verdankt Cord Riechelmann viel: »Sie waren da, und ich konnte etwas mit ihnen anfangen. Sie haben mir Genugtuung gegeben. Das tun sie immer noch.« Sein Metzgervater tötete Tiere, er hingegen streichelt sie. Dennoch sei seine Neigung nie Ausdruck von Protest gegen den Vater gewesen, sondern organisch gewachsen. Die Verkäuferin, die in der Metzgerei seiner Eltern aushalf, habe zwar stets gesagt, dass er das anhänglichste Kind gewesen sei, das sie je gekannt habe: »Trotzdem bin ich der Meinung, dass ich die meisten Zärtlichkeiten von Tieren bekommen habe.«
Neben den Tieren rettete ihn auch die Schule. Sie holte ihn von zu Hause weg und erschloss ihm neue Welten. »Ich ging vom ersten Tag an gerne hin«, sagt Cord Riechelmann. Er war ein sehr guter Schüler. Und er war sehr gut im Fußball. Weil alle Schüler ihre Fußballer mögen, wurde er nur verprügelt, wenn die Lehrer ihn als Vorbild priesen: Wenn der Cord das kann, könnt ihr das genauso. Einmal wurde ihm das Hausaufgabenheft geklaut, damit er keine Hausaufgaben machen konnte. Dass er seine Mitschüler danach nicht verpfiff, brachte ihm Respekt ein. Er war kein Außenseiter, doch Freunde, mit denen er über das hätte reden können, was ihn wirklich interessierte, hatte er keine. Im fünften Grundschuljahr fing er an, Franz Kafka zu lesen, den liest er immer noch. Im Gymnasium übersetzte er Texte vom Lateinischen ins Deutsche. Er ließ sich vom Philosophen Immanuel Kant fordern. Wie hätte sein Vater ihn da korrigieren wollen. Er entwuchs ihm schlicht.
Als er fünfzehn Jahre alt war, kam es zu einem Zwischenfall. Sein Vater war dabei, seinen Bruder auszupeitschen. Er kam hinzu, sah eine Latte in der Ecke stehen, nahm sie und schlug sie seinem Vater über den Kopf. Die Latte zerbrach und es kamen Nägel zum Vorschein. »Das Bild von dieser Latte mit den Nägeln verfolgt mich blöderweise bis heute«, sagt Cord Riechelmann. Was ihn an seinen Vater erinnert, mag er nicht. Aber es ist verständlich, dass dieses Bild ihn nicht loslässt. Hätte er die Latte zufällig umgekehrt gehalten, wäre seine Hilfe für den Bruder vielleicht tödlich ausgegangen für den Vater. Und er, Cord Riechelmann, wäre ein Vatermörder. Das war ein Schock, der allen in die Glieder fuhr, vor allem dem Vater. »Danach rührte er mich nie mehr an.«
Ihr Verhältnis veränderte sich von diesem Tag an komplett. Früher wartete er die Ausbrüche seines Vaters ab wie ein schreckliches Naturereignis und ging in Deckung. Jetzt leistete er Widerstand. Er weigerte sich, schießen zu lernen. Er weigerte sich, dem Vater beim Stellen der Fallen zu helfen, für deren Raffinesse er berühmt war in seinen Jägerkreisen. Er fuhr nicht mehr mit in den Familienurlaub. Und hätte sein Vater versucht, ihn zu schlagen, hätte er zurückgeschlagen. Der Bruch war da.
Sein Vater reagierte darauf keinesfalls mit Rückzug, im Gegenteil, er wurde noch roher und ungehemmter. »Jetzt war ich ein Problem für ihn.« Aber er schlug nicht mehr zu, damit war er für Cord Riechelmann nur noch ein tobender Irrer: »Er konnte nicht mehr bestimmen, wie ich mich selber sah.« Cord Riechelmann zog sich in sein inneres Exil zurück und verfolgte seine Interessen.
Da er sich in seinem Vater weder finden konnte noch suchen wollte, erarbeitete er sich ein Konzept von Wahlverwandtschaften. Vielleicht hat das auch die wissenschaftlichen Positionen bestimmt, die er als Biologe vertritt: »Ich habe eine Abneigung gegen Versuche, das Verhalten der Menschen allein aus ihren Genen zu erklären.« Er zitiert den Philosophen Gilles Deleuze: »Kein Mensch kann sagen, warum jemand ein guter Lateinschüler wird.« Cord Riechelmann sieht sich konstitutionell so weit von seinem Vater entfernt, dass er erschrickt, wenn er auf Fotos ihre Ähnlichkeit entdeckt.
Der Bitte, seinen Vater genauer zu charakterisieren, weicht er aus, indem er nicht von ihm als Individuum spricht, sondern vom Typus Mann, den er verkörpert. Er sagt zum Beispiel, sein Vater sei »ein deutscher Mann« gewesen. Das bedeutet, »dass die Selbstidentifizierung über ein nationales Ausschlusskriterium erfolgt«. Leute wie sein Vater hätten sich zum Beispiel an der
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