Liebe, lebenslänglich
ist für ihn zu Hause? Meint er das Haus, wo er die ersten acht Jahre seines Lebens verbrachte und dessen Adresse er auswendig lernen musste für den Fall, dass er verloren gehen würde? Meint er das Heim? Oder die Wohnung seines getrennt von ihr lebenden Vaters? Oder meint er ihre Wohnung? Simon beantwortet keine Fragen.
Eine Stunde hält er es bei ihr aus. Er räumt in dieser Zeit den Kühlschrank und das DVD -Regal aus und bröselt alles voll. Dann gehen sie schwimmen, ins immer gleiche Schwimmbad. Immer gleich hilft. Wenn Simon manchmal nicht ins Wasser geht, sondern zum Beispiel in die Sauna flüchtet, bricht bei ihr der kalte Schweiß aus, denn er fasst fremde Menschen gerne unvermittelt an. Die Stunden mit ihm sind eine Kette von mal peinlichen, mal gefährlichen und oft unverständlichen Handlungen. Dass sie ihn nicht lesen kann, empfindet sie als die größte Anstrengung überhaupt. Abends fährt Tessa Korber ihren Sohn erschöpft ins Heim zurück, wieder eine Stunde mit Storm Front von Billy Joel. Den nächsten Tag verbringen sie mit dem gleichen Programm.
Simons Bruder Jonathan Willett ist ein neunzehnjähriger, blauäugiger, blonder, junger Mann. Er wirkt auf den ersten Blick ein wenig unsicher und sympathisch. Doch wenn er mit schonungsloser Nüchternheit von seinem Leben neben Simon erzählt, öffnen sich Abgründe.
Schon der Kindergarten habe Simon in Stress versetzt, sagt Jonathan Willett. In der Schule sei er sich dann völlig abhandengekommen: »Die neuen Lehrer, die Kinder, Räume – das war alles zu viel für ihn.« Auch zu Hause wurde er immer seltsamer. Er geriet in Panik, wenn seine Mutter das Zimmer verlassen wollte. Er zerlegte in Einzelteile, was ihm in die Finger kam: Bücher, Pflanzen, Kugelschreiber oder Fernbedienungen. Ließ man ihn unbeaufsichtigt, kletterte er aufs Dach oder lief davon und stand plötzlich schreiend mitten auf der Straße oder bei den Nachbarn im Wohnzimmer. Er habe kaum je gestritten mit seinem Bruder, sagt Jonathan Willett, er habe ihn beschützt und beaufsichtigt.
Simon bohrte Löcher in die Matratze und pinkelte rein, er pinkelte auf den Boden, in den Schaukelstuhl oder an die Wand. Die Zähne musste man ihm unter Zwang putzen. Er nagte Löcher in seine Kleider und zog sich immer wieder aus. Beim Essen sprang er alle paar Sekunden vom Tisch auf und lief weg, kam mit einer Packung Salz zurück und schüttete sie über seinen Teller. Oder er schnappte sich die Ketchupflasche und verschmierte Fußboden und Schränke.
»Es gab Lichtblicke, in denen Simon zeigen konnte, dass er Gefühle und Gedanken hat«, sagt Jonathan Willett, »und dass er eigentlich versteht, wozu Sprache gut ist.« Seine Mutter praktiziere mit Simon gestützte Kommunikation. Dabei nimmt sie seine Hand und hilft ihm, auf einer Buchstabentafel die richtigen Buchstaben auszuwählen und sich so auszudrücken. »Auf diese Weise hat er einmal gesagt, dass er zornig sei, weil ich normal bin«, sagt Jonathan Willett. Oder er formulierte seine Meinung zur Todesstrafe: »Ich bin dagegen, weil jeder am Gefängnis genug hat.« Und einmal habe er seiner Mutter gesagt: »Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können.« Dieser Satz ist zum Titel des Buches geworden, das Tessa Korber über Simon geschrieben hat.
Meist jedoch war kein Zugang zu ihm möglich. Jonathan Willett hörte seinen Bruder lachen, schreien, er sah, wie er um sich schlug oder Gegenstände herumwarf, wusste jedoch nicht, weshalb. »Es ist wie Rätselraten«, sagt Jonathan Willett. Er sei von allen in der Familie noch am ehesten in der Lage, Simons verwinkelte Gedankengänge nachzuvollziehen. Einmal zum Beispiel riss Simon sich auf einem Waldspaziergang die Kleider vom Leib, sprang herum, ruderte mit den Armen und schrie dazu laut: »Holt die Polizei! Holt die Polizei!« Jonathan Willett beobachtete seinen Bruder und sah, dass seine nackten Füße in den Gummistiefeln hin und her rutschten. Vielleicht hat er eine Blase und ruft nach der Polizei, weil die ihn schon mehrmals nach Hause gebracht hat. »Ich habe ihn dann hingesetzt, ihm die Stiefel ausgezogen und erklärt, er könne barfuß gehen. Da war er wieder quietschfidel.«
Doch oft hat man keine Chance herauszufinden, was Simon in Aufregung versetzt. Er unterscheidet nicht zwischen Gegenwart und Erinnerung. Ein drei Tage altes Erlebnis kann plötzlich eine absolute Dringlichkeit entwickeln. »Und dann steht man ratlos neben ihm. Es ist sehr anstrengend, Zeit mit Simon zu
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