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Liebe, lebenslänglich

Liebe, lebenslänglich

Titel: Liebe, lebenslänglich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula von Arx
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verbringen«, fasst Jonathan Willett zusammen, »er kostet einen mehr Energie, als man hat.«
    »Simon war ein sonniges Baby«, sagt Tessa Korber, »sonniger als Jonathan.« Ihr älterer Sohn habe schon sehr früh in sich gekehrt gewirkt. Mit fünf Jahren fragte er sie, ob die Welt wirklich sei oder nur seine Vorstellung. »Er war noch ein Knirps, als er behauptete, er sei zum Denken geboren.« Tessa Korber sitzt am Esstisch ihrer praktisch eingerichteten Wohnung und erzählt ihre Geschichte mit großer Klarheit. Sie wirkt so nachdenklich wie stolz, wenn sie sich an ihre ersten Jahre als Mutter erinnert.
    Sie hatte keine Familienträume, bis sie ihren Ex-Mann kennenlernte. »Da schien mir auf einmal Theodor W. Adornos Diktum erfüllt, dass die Freude am eigenen Leben der einzig legitime Grund sei, ein Kind zu bekommen.« Sie wollte zur universitären Kopfarbeit auf Distanz gehen, sie liebte einen Mann, sie wünschte sich ein Kind. Alles passte.
    Als Jonathan zur Welt kam, war sie 28, eine für ihr soziales Umfeld und jene Zeit junge Mutter. Sie zogen aufs Land in ein Haus mit Garten, Hasen, Katzen und Meerschweinchen. Sie und ihr Mann arbeiteten als Werbetexter. Sie promovierte nebenbei mit summa cum laude, fing an, Romane zu schreiben, und war erfolgreich damit. »Und weil wir nicht so ein kostbares Einzelkind wollten, sondern gerne mehr Leben, mehr Chaos, kam sechs Jahre später Simon dazu.« Für ein paar Jahre waren sie tatsächlich eine ziemlich glückliche Familie.
    Im Alter von drei Jahren zeigte Simon erste Auffälligkeiten. Einmal fragte er seine Mutter einen Tag lang: »Bist du eine Treppe?« Sie sagte: »Nein, ich bin deine Mutter.«
    Simon wieder: »Bist du eine Treppe?«
    Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu einer Treppe: »Schau, Simon, das ist eine Treppe.«
    »Bist du eine Treppe?«
    »Wie meinst du das, ob ich eine Treppe bin?«
    »Bist du eine Treppe?«
    Es wurde schwieriger, mit ihm zu spielen. Einen Ball zuwerfen konnte man ihm noch ein- oder zweimal, schon lief er davon. Anderen Kindern warf er sich manchmal an den Hals. Dann roch er an ihnen oder versuchte sie auszuziehen. Sie suchte nach Erklärungen und fand sie. Er hat Freude an dadaistischen Sprachspielen. Er hat eine schlechte Phase. Er leidet unter vorübergehender Lustlosigkeit. Zugleich vermied sie mehr und mehr, was ihn überfordern oder gar in Schrecken versetzen könnte: Hunde, Gedränge, Jahrmärkte, ungewohnte Wege. Doch im Kindergarten und später in der Schule verhielt sich Simon so eigenartig, dass sie Hilfe suchte. Nach einigen Abklärungen stand fest, dass er an Autismus leidet.
    Die Suche nach Erklärungen war damit beendet, nicht aber die Krankheit. Die wurde stärker. Simon kam fast gar nicht mehr zur Ruhe, und mit ihm auch seine Eltern und Jonathan nicht. Tessa Korber erinnert sich, wie sie sich im Dunkeln dicht an Simons Körper legte, um ihm ein Gefühl von Sicherheit zu geben. »Da lag ich manchmal zwei oder drei Stunden und wartete, bis er endlich einschlief.« Oft wachte Simon mitten in der Nacht auf und ging im Kreis herum und schrie. Oder er schrie nicht, sondern fragte ohne Unterlass: »Wann wird es Tag? Wann wird es Tag? Wann wird es Tag?«
    Simon raubte seinen Eltern den Schlaf und kostete sie jede freie Minute. Natürlich habe sie, solange sie die Kraft noch gehabt habe, alles darangesetzt, dass Jonathan neben seinem behinderten Bruder nicht zu kurz komme, sagt Tessa Korber, zumal Jonathan über kein fröhliches Gemüt zu verfügen schien. Sie erinnert sich, wie er kurz nach der Geburt seines autistischen Bruders zu seinen Eltern gesagt hatte: »Mama, Papa, ich würde jederzeit mein Leben für euch geben, und ich hoffe, dass das bald geschieht.« Ein Sechsjähriger mit Todeswunsch, sie erschraken. Doch eine Psychologin beruhigte sie. Es sei genug Positives in Jonathans Leben, die Gedanken über den Tod seien Gedankenspiele.
    Zu jener Zeit hat Jonathan Willett damit angefangen, seine Zimmertür zu verriegeln. Und bis heute brauche er breite Ränder um sein Leben, sagt er. Wenn er nach Hause komme, müsse er sich zurückziehen. »Ich gelange nur zur Ruhe, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass mich jemand überraschend stören könnte.« Darum drehe er den Schlüssel immer um.
    Dieser gesicherte Rückzug in sein Zimmer fiel für Jonathan Willett weg, nachdem die Krankheit seines Bruders ausgebrochen war. »Denn ein Leben mit einem Autisten ist ein Leben in Daueralarmbereitschaft.« Ein anderer hätte sich

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