Liebe, lebenslänglich
da vielleicht erst recht in seinem Zimmer eingeschlossen. Er hingegen fühlte sich verpflichtet, seinen Eltern und seinem Bruder beizustehen. »Ich hatte schon damals das Helfersyndrom«, sagt Jonathan Willett, aber auch: »Das war das Schlimmste, was Simon mir angetan hat, er hat meine Ruhe, mein Paradies zerstört.«
Dabei wollte seine Mutter ihn schonen. Er erinnert sich, dass ihn das wütend machte. Noch heute kann er diese in seinen Augen falsche Rücksichtnahme nicht verstehen: »Wie hätte ich mich da ausklinken sollen? Die Anspannung überträgt sich ja, auch wenn man nicht direkt verantwortlich ist.« Ging seine Mutter mit Simon spazieren, war er in Sorge. »Denn ich wusste, sie geht womöglich gerade durch die Hölle.«
Obwohl Tessa Korber sah, dass Jonathan neben Simon litt, vermochte sie es nicht, sich so um ihn zu kümmern, wie er es gebraucht hätte. »Es hat an Aufmerksamkeit gefehlt in Jonathans Kindheit«, sagt sie, »die ist an Simon gegangen. Und es hat an Leichtigkeit gefehlt, an der Sicherheit, dass er Kind sein darf und dass die Erwachsenen im Hintergrund das Leben für ihn regeln.«
Einmal sollte Jonathan die Mitglieder seiner Familie als Tiere darstellen. Simon zeichnete er als Kuckuck. »Er erklärte das so«, sagt die Mutter, »dass dieser Vogel immer größer wird und seine Eltern unter der Anstrengung, ihn durchzufüttern, zusammenbrechen.« Sie sah in diesem Kuckuck einen Vogel, der seinen Bruder verdrängt. »Jonathan hat diese Interpretation nie bestätigt.« Sich habe er als Kaninchen gezeichnet, »beobachtend, und immer fluchtbereit«, so Jonathans Kommentar. Der Vater war ein Maulwurf, »ein Tier, das sich blind für Probleme vergräbt«. Die Mutter war für den zeichnenden Jonathan ein Kamel, »wegen der Ausdauer, mit fast nichts ziehst du durch eine endlose Wüste«. Tessa Korber findet dieses Bild von sich nicht falsch, aber auch nicht richtig. Zu oft habe Jonathan sie vollkommen erschöpft und ohne Lebensmut erleben müssen. Und am Ende war die Wüste zu groß für sie.
Dass sie sich von ihrem Mann scheiden ließ, als Jonathan vierzehn und Simon acht Jahre alt waren, hält sie auch rückblickend für richtig. Ihre Beziehung war unter dem Stress mit Simon körperlich wie geistig verdorrt. Und sie konnten einander in der schwierigen Situation nicht stützen. Im Gegenteil. Er warf ihr vor, sie verausgabe sich zu sehr; sie warf ihm vor, er lasse sie mit der Aufgabe, Simon zu lieben, allein.
Ihr Alltag mit Simon wurde dadurch nicht leichter, dass sie ihren Mann verließ. »Wenn möglich, bin ich morgens aufgestanden und wieder ins Bett gekrochen, sobald die Buben in der Schule waren.« Jonathan sollte nicht sehen, wie seine Mutter das Leben verschläft. Aber nicht einmal das habe sie immer geschafft. Jonathan wuchs mit einer Mutter auf, die stets am Rande des Zusammenbruchs taumelte. Er erlebte, wie sie sich in ihrem Zimmer einschloss und dort weinte. Oder wie sie Simon festhielt und anschrie, wenn sie weder ein noch aus wusste.
Tessa Korber ist nicht entgangen, dass Jonathans ohnehin schwierige Situation nach ihrer Scheidung noch schwieriger wurde. Jetzt durfte er nicht nur nicht mühsam sein, weil schon ein anderer mühsam war, jetzt musste er seiner Mutter auch noch den Partner ersetzen, denn es war niemand anders da, mit dem sie hätte reden können. Jonathan fügte sich so vollendet in seine Rolle, dass Tessa Korber heute noch sagt: »Wenn er zwanzig Jahre älter wäre und nicht mein Sohn, dann wäre er der ideale Partner für mich.« Einmal bekannte sie ihm: »Jonathan, du bist die einzige Liebe in meinem Leben, an der ich nie gezweifelt habe.«
Ihr Sohn war in diesen vier Jahren, die er mit seiner Mutter und seinem Bruder in einer Wohnung verbrachte, ein Teenager. Und er war in fast jedes Geheimnis seiner Mutter eingeweiht. Er wusste, dass sie manchmal mit dem Gedanken spielte, mit Simon auf ein Hochhaus zu steigen und runterzuspringen. »Jonathan hat oft Angst um mich gehabt«, sagt Tessa Korber.
Ja, sagt Jonathan Willett, seine Mutter sei manchmal erst aufgestanden, wenn er am Mittag von der Schule nach Hause kam. Er habe jeweils gedacht, sie sei krank, und ihr Tee ans Bett gebracht. »Bis ich gemerkt habe, dass ihr einfach die Kraft fehlt, aufzustehen.«
Seine Mutter sei zwar der geduldigste und vielleicht unerschütterlichste Mensch, den er kenne. »Doch fordert sie von sich immer mehr, als sie leisten kann, und dann bricht sie zusammen. Hörsturz,
Weitere Kostenlose Bücher