Liebe, lebenslänglich
Bandscheibenvorfall, Depression, Schwindelgefühle, Ohnmacht auf offener Straße, Nervenzusammenbruch.«
Beim jahrelangen Flirt seiner Mutter mit dem Tod sei er sich eigentlich stets sicher gewesen, dass sie diesen Gedanken nie umsetzen würde. Dennoch war es entlastend, dass er und seine Mutter einander eines Tages nach einem Gespräch über das Sterben das Versprechen gaben, dass keiner sich umbringen werde, bevor es der andere tue. »So sind wir aneinander gefesselt. Und die Angst ist gebannt, dass der eine freiwillig vor dem anderen gehen könnte.«
Jonathan Willett sagt, dass er sich von seiner Mutter immer schon erkannt gefühlt habe. Aber in den vier Jahren mit ihr und Simon allein entstand eine ungewöhnliche Nähe zwischen Mutter und Sohn. »Wir haben alles miteinander geteilt, den Stress mit Simon, die Wut auf Simon, die Ruhe vor Simon. Und die Hoffnung, wenn Simon einen Fortschritt machte; wenn er zum Beispiel Vertrauen zeigte zu einer Person außerhalb der Familie. Wir haben uns gefreut und uns gestützt, und wir haben gemeinsam geweint, wenn wir nicht mehr weiterwussten. Für Geheimnisse war kein Platz mehr.«
Noch heute fühlt er sich am zwangslosesten in Gegenwart seiner Mutter. Bei ihr müsse er weder gewinnend lächeln noch Begeisterung zeigen für etwas, was ihn in Wirklichkeit nicht interessiere. Auch von der Angst, einen Fehler zu machen, fühle er sich befreit. »Die Mischung aus Arroganz und Schüchternheit, die mich im Umgang mit anderen befällt, kennt sie aus eigener Erfahrung. Sie versteht mich, und sie erlöst mich davon.«
Kontakt zu anderen Menschen sei zwar wunderbar, sagt Jonathan Willett, allerdings auch sehr anstrengend. Also hat er sich in der Schule immer große Mühe gegeben, eine graue Maus zu sein. Aus Angst, gemobbt zu werden. Oder, noch schlimmer, weil jemand versuchen könnte, sein Freund zu werden. Er wollte Abstand zu seinen Schulkameraden. Nie sollte einer bei ihm anrufen und fragen: »Wollen wir etwas zusammen machen?«
Als vor zwei Jahren die Polizei morgens um vier anrief, Jonathan sei betrunken in einem Fensterschacht gefunden worden und müsse abgeholt werden, war Tessa Korber erfreut. Es war sein erster Rausch. »Endlich verhielt er sich einmal wie ein ganz normaler Siebzehnjähriger.« Leider erwachte mit der Nüchternheit am nächsten Tag auch wieder seine Vernunft. »Er sagte, die Erfahrung sei nicht so gewesen, dass er sie wiederholen möchte.«
Tessa Korber ist auch eine der wenigen Mütter, die ihren Sohn lieber mit Zigarette sehen als ohne. Mit wirke er so erwachsen, findet sie, vor allem aber scheine er ganz bei sich zu sein und für niemanden sonst da, wenn er den Rauch einziehe und wieder ausstoße. Dass Jonathan das Leben einfach nur genieße, sei ein Zustand, in dem sie ihn selten erlebe. So selten, wie er eine Zigarette zwischen den Fingern hält.
Jonathan habe keine leichte Schulzeit gehabt, sagt sie. Bei den Gesprächen mit seinen Lehrern segelte sie zwar von einem Triumph zum nächsten, für seine schulischen Leistungen gab es nur Lob. »Doch er brachte nie einen Freund nach Hause, denn er hatte keinen.« Kürzlich hat er ihr erzählt, wie er die Pausen verbracht hatte: In der Grundschule lief er auf einer Linie am Boden hin und her, im Gymnasium ging er in die Bibliothek. »Er wurde nicht einmal ausgeschlossen, er war von Natur aus ein anderer«, sagt Tessa Korber. Er war unfähig, den Geschmack seiner Altersgenossen zu teilen, und unwillig, zu ihren Themen etwas beizutragen.
Da war zum Teil Hochmut im Spiel, aber auch Befangenheit. Jonathan hatte Angst, nicht bestehen zu können, vermutet seine Mutter. Mit fünfzehn sei er einmal verzweifelt zu ihr gekommen: »Ich verstehe die Interaktionsmuster einfach nicht!« Ein Satz, den sie nie vergisst, auch wenn sie sich inzwischen mit Blick auf ihre eigenen Jugendjahre beruhigt. »Ich war ebenfalls völlig vergebens jung«, sagt sie. »Erst im Studium bin ich das Gefühl losgeworden, überall fremd und am falschen Ort zu sein.«
Doch als Jonathan damals den Verdacht äußerte, er könnte unter einer schwachen Form des Asperger-Syndroms leiden, einer Variante von Autismus, fürchtete sie sich sehr. Zum Glück war das Testergebnis negativ und ergab, dass Jonathan empathisch und in hohem Maße schwingungsfähig ist. Tessa Korber sagt, sie habe vor dem Ergebnis der Untersuchung wohl mehr Angst gehabt als Jonathan, weil sie nicht wusste, ob sie es verkraftet hätte, noch ein zweites Kind an den Autismus
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