Liebe, lebenslänglich
will Widerspruch, sie erwartet ihn förmlich. Lässt man sie ins Leere laufen, wie es Rainer oft getan hat, fühlt sie sich betrogen.«
Arne konnte jetzt ein freundlicheres Bild seiner Mutter zulassen. Er sah nicht mehr nur ihre Wohlerzogenheit, er bemerkte auch ihre anarchische Seite. Die spielte sie zum Beispiel gegenüber diesem großspurigen Geschäftsfreund seines Vaters aus, der frohlockte: »Ich habe mich verändert, Frau Schmidt!« Darauf sie: »Das ist offensichtlich, Herr Liep. Sie sind viel dicker geworden.« Oder kürzlich rannte sie ihm entgegen, mit roten Wangen und Sonnenblumen im Arm, die sie von einem Feld gestohlen hat, zusammen mit ihrem neuen Freund. »Allerdings«, sagt er, »muss meine Mutter sich schon sehr sicher fühlen, um derart vom Weg abweichen zu können.«
Heike Schmidt wirft ihre Haare mit Schwung zurück. Sie ist noch immer froh, dass sie damals in dieser Semesterarbeit die Gelegenheit erkannte, das Eis zwischen sich und Arne zu brechen. Seither halten sie sich gegenseitig auf dem Laufenden und pflegen eine distanzierte Nähe. Sie reden miteinander über sich und die Welt und über ihre alten Missverständnisse, die jederzeit wieder aufbrechen können. Er fühle sich immer mal wieder von ihr gegängelt, sagt sie, obwohl sie geklärt zu haben glaube, dass sie meist nur als Anstoß verstehe, was bei ihm als Bevormundung ankomme. »Ich mache Vorschläge und sage meine Meinung, oft ungefragt, das stimmt. Aber doch nur, um ins Gespräch zu kommen.«
Sie bemüht sich inzwischen, ihre Ausdrucksweise anzupassen. Sie wählt ihre Worte vorsichtiger. Nicht immer gelingt das, und wenn sie doch wieder einmal mit der Tür ins Haus fällt, wehrt er sich auf seine heftige Art. Die Schonungslosigkeit, mit der er sich Raum verschafft und sie abschmettern kann, trifft sie immer noch jedes Mal ins Herz. Manchmal merkt er es und ruft dann bei ihr an, um sich zu entschuldigen.
»Ja, ich rufe meine Mutter jetzt öfter mal an«, sagt Arne Schmidt. Das sei das Zugeständnis, das er mache, nach dem Zusammenstoß an Weihnachten, als seine Mutter sich beklagte, sie könne sich auf ihre Söhne nicht verlassen, bekäme kaum Besuch von ihnen und überhaupt. Da habe er zurückgebellt, ihr Verhalten steigere seine Geberfreude keineswegs, und wenn sie enttäuscht von ihren Kindern sei, so sei das ihr Problem. Sie könne seine Aufmerksamkeit nicht herbeibefehlen und von ihm weder Dankbarkeit erwarten noch dass er ticke wie sie.
Als junge Frau hatte Heike Schmidt die Vorstellung, sie könne bei ihren Kindern Spuren hinterlassen wie in frisch gefallenem Schnee. Aber dann hielt sie ihren neugeborenen Sohn in den Armen und spürte, dass der sein ganz eigenes Wesen schon mitbrachte. Manchmal widersteht sie der Versuchung trotzdem nicht, in ihm nach sich zu suchen. Und muss dann feststellen, sie hat sich nicht sehr durchgesetzt: »Weder im Aussehen noch in Arnes Lebensweise.« Auch deswegen bedauert sie, nicht noch weitere Kinder bekommen zu haben: »Ich hätte mich«, sagt sie, »wohl gerne breiter aufgefächert.«
BRUDER KUCKUCK
Jonathan Willett (19) und seine Mutter Tessa Korber (47) verzichteten für das Zusammenleben mit dem autistischen Simon auf Schlaf, Kindheit, Ehe und Verstand. Das Leben mit dem behinderten Bruder und Sohn schweißte sie zusammen. Ein fataler Haushalt zu dritt, und als die Mutter einen neuen Partner nach Hause brachte, wurde erst mal alles noch schlimmer.
Tessa Korber hat einen interessanten Beruf und einen interessanten Mann, mit dem sie alle großen und kleinen Dinge bespricht und sich gern streitet, zusammen pflegen sie einen netten, klugen Freundeskreis. Heute, mit 47 Jahren, führt sie das Leben, das sie sich mit 27 ausgemalt hat. Mit einem Unterschied: Sie hat zwei Söhne, die sie über alles liebt. Und einer der beiden, Simon, ist Autist und hat sie in den letzten zehn Jahren an ihre Grenzen gebracht.
Tessa Korber verbringt nur noch zwei Wochenenden pro Monat mit Simon. Der Dreizehnjährige lebt seit einem Jahr in einem Heim. Aber noch heute fürchtet sie sich vor den gemeinsamen Stunden. Denn sie weiß, dass sie nie weiß, was auf sie zukommt.
Sie holt Simon mit dem Auto ab. Wenn er dann vor ihr steht, schließt sie ihn in die Arme und spürt Glück. Er ist ihr Sohn. Auf der einstündigen Fahrt zu ihr will er immer wieder das gleiche Lied hören, im Moment ist es Storm Front von Billy Joel. Plötzlich schreit Simon: »Ich will nach Hause.« So fangen die Schwierigkeiten an. Wo
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