Liebe, lebenslänglich
Kornfelder blühen und wo sie zwei Jahre später Mutter eines Mädchens werden sollte, das sie ganz anders erziehen wollte, als sie selbst erzogen worden war.
»Bei mir hat dieses Antiautoritäre überhaupt nicht funktioniert«, sagt Katharina Scholl. Sie sei oft sehr frech gewesen, vor allem in der Pubertät. Sie ließ die Türen knallen, bis eine einen Sprung hatte und der Vater ein Machtwort sprach. Wenn sie ausging, konnte sie darauf zählen, dass ihre Mutter zu Hause im Nachthemd auf dem Sofa saß und auf den Anruf ihrer Tochter wartete – egal, ob dieser mitten in der Nacht oder erst in den frühen Morgenstunden kam, sie wollte erfahren, ob und wo sie sie mit dem Auto abholen solle.
Auch in materieller Hinsicht bekam sie alles, was sie begehrte. Ihre Mutter vernachlässigte lieber die eigenen Bedürfnisse, als dass sie der Tochter einen Wunsch ausschlug. Katharina konnte so boshaft, beleidigend oder abweisend sein, wie sie wollte, von mütterlicher Seite wurden ihr nie Grenzen gesetzt. Eines Tages schaute sie ihre Mutter an und stellte fest, dass sie den Respekt vor ihr verloren hatte: »Sie ließ sich ja alles gefallen. Wie soll man jemanden achten, der sich selbst nicht achtet?«
Katharina Scholl hat ein schönes Gesicht mit einem großen Lachen, das sie jetzt zeigt. Sie sagt, dass sie während der Pubertät tatsächlich weniger den Eindruck hatte, eine freie Erziehung zu genießen, als vielmehr frei von Erziehung zu sein.
Katharina wurde 1967 geboren. Wer damals über Erziehung sprach, der sprach über das Buch Summerhill des Reformpädagogen A.S. Neill, über antiautoritäre Erziehung also, über intrinsische Motivation und den Ansatz, in der Erziehung die persönliche Freiheit des Kindes als das höchste Gut überhaupt zu behandeln. Elvira Scholl hat Summerhill gelesen, als sie mit Katharina schwanger war. Sie habe sich bestätigt gefühlt durch dieses Buch, sagt sie, deren Kindheit geprägt war von »Du sollst«, »Du musst« und »Du darfst nicht«. Auch dass die Autorität der Erwachsenen ganz grundsätzlich infrage gestellt wird, gefiel ihr. Sie hatte bis ins frühe Erwachsenenalter gelitten unter dem Druck, sich bis zur Selbstaufgabe anpassen zu müssen, und darunter, dass sie kaum aufzumucken wagte gegenüber sogenannten Respektspersonen. Der Ratschlag, Vertrauen als die Basis für die Beziehung zu Kindern anzustreben, schien ihr goldrichtig, denn im Rückblick auf ihre Kindheit stellte sie fest, dass es da kein Vertrauen gegeben hatte. Nie, so schwor sie sich, sollte Katharina solche Angst haben vor ihr, wie sie manchmal vor ihrem Vater Angst gehabt hatte.
Elvira Scholl spielte und bastelte mit ihrer Tochter, sie gingen zusammen über die Felder, sie sammelten, was sie fanden, und zu Hause machten sie daraus Zwerge oder Häuser. Und wenn sich das genau richtig anfühlte, dann vielleicht auch, weil sie bei A.S. Neill gelesen hatte, dass ein Mensch, wenn er als Kind genug gespielt hat, sich danach an die Arbeit machen und die Schwierigkeiten meistern wird. Blickt sie zurück, war es diese Vorschulzeit, in der sie sich ihrer Tochter am nächsten fühlte, näher als in der Pubertät sowieso, da war sie ihr richtig fremd geworden, und näher auch als heute, wo Katharina ihr eigenes Leben führt mit Mann und Kind.
Katharina konnte damals auf Stühle klettern, auf dem Sofa rumhüpfen, alles anfassen und ausräumen, sie sollte in ihrem Bewegungs- und Erkundungsdrang durch keine unnötigen Verbote behindert werden. Ihre Wohnung war entsprechend eingerichtet, sie waren mit nichts nach Amerika gekommen, sie hatten nur wenige, praktische Möbel, keine Nippes, es war ein Paradies für ein Kind. Als Katharina einmal ein Bild direkt auf die Wand gemalt hatte, schimpfte die Mutter nicht mit ihr. »Kein schöpferischer Geist war wahrscheinlich je auf Ordnung bedacht«, steht in Summerhill . Elvira Scholl war selber nicht sehr strukturiert. Sie liebte es, kreativ zu sein, sie malte gerne und besuchte einen Abendkurs in Kunst an der nahen Universität.
Die USA empfand sie als ein kinderfreundliches Land. Im Supermarkt schrie niemand auf, wenn Katharina Salz aus dem Regal zog. In Restaurants war man mit Baby und Babywagen willkommen, sogar in die Bibliothek nahm sie ihre Tochter mit. Als sie 1971 in die Schweiz zurückkehrte – sie zog zuerst nach St. Gallen, später in die Nähe von Zürich –, erlitt Elvira Scholl einen kleinen Kulturschock. Ihr Eindruck war, man weise die Kinder hier immerzu in ihre
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