Liebe, lebenslänglich
Schranken.
Die schönsten Mutterjahre erlebte sie in den USA , mit Katharina als Kleinkind. Obwohl es auch dort nicht nur einfach war. Sie fühlte sich oft alleine, sie konnte niemanden um Rat oder um Hilfe bitten. Ihre Mutter war weit weg, telefonieren kostete 52 Franken die Minute, ihr Mann arbeitete viel. Ihr Englisch wurde besser, doch für ihre Ansprüche nicht gut genug. Zwar kam sie in Kontakt mit anderen Müttern und wurde auch mal eingeladen. Aber die Frauen, die sie kennenlernte, schienen am liebsten für sich zu bleiben, obwohl keine berufstätig war. Elvira Scholl störte sich nicht daran: Sie genoss es, ihre Tochter ganz für sich zu haben.
Damals konnte sie die Mutter sein, die sie sein wollte, mehr noch. »Ich konnte mich verwirklichen«, sagt Elvira Scholl. Sie konnte geben, immer nur geben – und niemand beäugte ihre Selbstlosigkeit mit Misstrauen. Mit der neuen Frauenbewegung kam sie nicht in Berührung: Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass sie als Mutter und Hausfrau sich selbst verleugne und darauf konditioniert sei, diese Selbstunterdrückung sogar vor sich selber zu verbergen. Ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit galt der Tochter. Als Mutter bestätigte und lobte sie sie in allem, was sie tat.
Überraschenderweise sagt Katharina Scholl, sie habe sich ihr Selbstvertrauen hart erarbeiten müssen. Sie denkt, dies habe mit jener zweifellos gut gemeinten, aber unterschiedslosen Anerkennung zu tun, die sie von ihrer Mutter erfuhr: »Für sie war ich immer die Größte. Sie fand einfach alles gut, was ich machte.« Das erlebte Katharina Scholl einerseits als Ermutigung, Neues zu versuchen. Es konnte ja nicht schiefgehen, sie hatte den Zuspruch ihrer Mutter sicher. Andererseits fehlte ihr der Maßstab: »Wenn man ein bisschen älter wird, spürt man, dass es gar nicht möglich ist, in allem perfekt zu sein.« So sei sie mit der Zeit misstrauisch geworden. Wenn sie von ihrer Mutter für etwas gelobt wurde, was ihrer Meinung nach kein Lob verdiente, wurde nicht nur dieses unangebrachte Lob wertlos, sondern jedes Lob.
Sie weiß, dass ihre Mutter Summerhill gelesen hat, glaubt allerdings nicht, dass es wirklich diese Lektüre war, die den Erziehungsstil ihrer Mutter geprägt hat. »Es ist wohl einfach so, dass dieses Buch ihrem Wesen sehr entgegenkam. Das Buch hat ihr gefallen und gutgetan, es hat ihr eine theoretische Legitimation für ihre Art verschafft.« Auch ohne Summerhill wäre sie diese liebevolle und wenig autoritäre Mutter geworden, die sie war und immer noch ist.
Bei ihrem fünfjährigen Sohn versucht Katharina Scholl, es anders zu machen. Sie lobt ihn nur, wenn sie seine Leistung wirklich lobenswert findet, und sie lobt ihn immer konkret. Also nicht: »Großartig, Lino!«, sondern: »Dass du dem kleinen Mädchen deine Legos gegeben hast, ist toll!« Sie nimmt sich auch vor, dafür zu sorgen, dass ihr Sohn in der Schule nicht so nachlässig wird, wie ihr das möglich war. Die Matur habe sie nur knapp bestanden, ihre Eltern seien da schon sehr locker gewesen. Und auch später, bei der Berufswahl, vermisste sie elterliche Anhaltspunkte: »Ich war da ziemlich überfordert.« Sie entschied sich für ein Architekturstudium. Nach einem Jahr gab sie es auf und fing eine Lehre als Grafikerin an. Da fühlte sie sich unterfordert. Sie brach die Lehre ab, ging nach New York und studierte Grafikdesign. »Und bei jeder Wende hieß es von Seiten meiner Eltern: ›Ist in Ordnung, Katharina.‹« Ein bisschen weniger Freiheit wäre für sie besser gewesen, sagt sie, und hätte ihr den einen oder anderen Umweg ersparen können.
Wie ihre Mutter sich vornahm, ihr zu geben, was in ihrer eigenen Erziehung gefehlt hatte, so will jetzt auch sie es besser machen mit ihrem Sohn. Sie fordert Respekt ein, Höflichkeit, Manieren. Sie duldet es nicht, wenn er ihr gegenüber ausfällig wird, sie setzt ihm klare Grenzen. Begriffe wie Gehorsam und Disziplin, die lange verpönt waren und seit einiger Zeit wieder in Mode sind, sind auch in ihrem Sprachgebrauch.
Doch das Pendel soll nicht zurückschlagen. Katharina Scholl bemüht sich, nicht schlicht ins Gegenteil dessen zu verfallen, was sie bei ihrer Mutter erfahren hat, sie strebt einen Mittelweg an. Sie möchte nicht einfach eine Autorität sein, sondern eine liebevolle Autorität, die dem Sohn weder zu viel noch zu wenig Handlungsspielraum lässt. Und sie weiß, dass wer Gehorsam verlangt, oft nur seine Macht zu bestätigen sucht. Auch wenn sie sagt, dass
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