Liebe, lebenslänglich
zu verlieren.
Zweimal ließ auch Jonathan Willett es knallen. Beim ersten Mal griff er zum Hammer und bearbeitete damit sein Zimmer. Ein Versuch, seiner Mutter zu zeigen, dass etwas nicht in Ordnung war mit ihm: »Aber bei dem Leben, das wir führten, kam es auf ein verwüstetes Zimmer mehr oder weniger nicht an.« Seine Mutter sei nicht weiter auf den Vorfall eingegangen. Beim zweiten Mal sagte er ihr ins Gesicht: »Ich hasse dich.« Er warf ihr vor, dass sie Simon für alle Probleme verantwortlich mache, dass sie seinen Vater verlassen hatte und dass sie eine Egoistin sei. »Für meine Verhältnisse war ich erstaunlich dezidiert. Mir war klar, ich musste etwas unternehmen: Nur weg hier.«
Er wusste schon damals, dass der momentane Hass auf seine Mutter getrieben war von Eifersucht. Seine Mutter hatte einen neuen Partner gefunden. Und er fühlte sich verraten, entthront und infrage gestellt. Denn dieser Freund war komplett anders als er. »Mein Credo war immer: Rücksicht und Schonung. Nie den Frust an anderen auslassen. Hast du ein Problem, komm darüber hinweg und schau, dass du wieder einsatzbereit bist.« Offene Auseinandersetzungen habe er immer gemieden. Jetzt aber habe seine Mutter einen Freund, der ständig den Konflikt suche und die ganze Welt mit seinem Missmut konfrontiere. Und wenn er keine Argumente mehr habe, mache er mit Beleidigungen weiter. »Meine Mutter mag das erfrischend finden, ich finde es nur kindisch und anstrengend.«
Als der Neue bei der Mutter einzog, zog Jonathan zu seinem Vater. Seine Mutter habe gezögert, ob sie ihm diesen Wechsel abverlangen könne. Er ist heute froh, dass ihm der Wegzug nicht erspart blieb. So habe er seinen Vater näher kennengelernt, den er stets als teilnahmslos erlebt habe. Doch dessen Liebe für Simon und ihn sei genauso groß wie die seiner Mutter. Nur setze sein Vater seine Energie anders ein.
Und jetzt zieht es Jonathan, der sich während seiner Kindheit und Jugend in einer festgefahrenen Situation eingerichtet hatte, noch weiter hinaus in die Welt. Derzeit macht er ein Praktikum in einem Verlag, demnächst fliegt er für ein Jahr nach Chile, um dort in einem Behindertenheim zu arbeiten. Dann will er International Business studieren und Japanisch.
Tessa Korber sieht, dass Jonathan aufblüht, seit er von ihr fort ist, und erträgt es mit Freude. Sie vermutet trotzdem, dass er – wie sie – noch von Schuldgefühlen gegenüber Simon bestimmt wird. »Kaum war sein Bruder im Heim, fing er an, mit Behinderten zu arbeiten, wahrscheinlich um eine Art Buße zu tun«, denkt Tessa Korber. Doch sie ist stolz, dass er das Jahr in Chile wagt. »Er musste so viel ein- und zurückstecken in seiner Kindheit und Jugend, dass er nicht in der Haltung des Eroberers in die Ferne reist.«
Dass Jonathan ihr sagte, dass er sie hasse, hat sie nicht vergessen, aber längst verziehen. »Das war die erste und einzige Auseinandersetzung, die wir je hatten. Dieser Streit war Jonathans Pubertät.« Damals traf er sie mit diesen Worten jedoch mitten ins Herz. Als er auszog, war sie verzweifelt: »Ich wollte wenigstens zu einem Kind eine heile Beziehung haben.«
Stattdessen hatte sie einen neuen Mann an ihrer Seite, der nach einem halben Jahr unter ihrem gemeinsamen Dach erklärte, dass er bezweifle, dass sie es schaffen würden, dieses Leben zu dritt, mit Simon. Da brach sie zusammen. Sie verbrachte drei Monate in einer Klinik, um sich zu erholen.
Mit ihrem Partner habe sie tatsächlich den Streit als Form der Begegnung entdeckt, sagt Tessa Korber, »obschon es meist so ist, dass er Streit sucht und ich ihn vermeiden will«. Vor allem aber hat sie wieder einen Mann, der sie ermuntert, Mascara zu benutzen, und ihr zeigt, dass zur Liebe auch das Begehren gehört. Sie hat einen Mann, und sie hat einen Sohn, Jonathan, zu dem das Verhältnis nicht besser sein könnte. »Wir gehen zusammen essen oder in Buchhandlungen und reden über das Leben und unsere Arbeit.« Wenn Jonathan zu Besuch ist, sei sie gelöster, habe ihr Partner mit leichter Verärgerung bemerkt. Die beiden Männer mögen einander immer noch nicht.
Seit einem Jahr hat Tessa Korber sehr viel mehr Zeit. Doch Simon beherrscht sie auch in seiner Abwesenheit. Ein autistisches Kind und die starken Gefühle für und gegen es seien wie eine Sucht, die man nicht ohne Weiteres loswerde: »Simon ist immer bei mir, ohne Simon bin ich nicht zu haben.« Sie fühlt sich als Versagerin, weil sie es nicht mehr schafft, mit ihm zu
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