Liebe, lebenslänglich
leben. Sie muss an ihn denken, wenn sie fremde Kinder beim Spielen sieht, diese perfekten, kleinen, sozialen Maschinchen, die Augenkontakt herstellen, im exakt richtigen Moment lachen und so viele Dinge miteinander zu besprechen haben. In solchen Augenblicken fragt sie sich manchmal mit einer leisen Bitterkeit, was aus Simon wohl geworden wäre ohne Autismus. Und was aus Jonathan ohne Simon.
Wenn Jonathan Willett heute an Simon denkt, dann denkt er nicht an die Vertreibung aus seinem Paradies, nicht an die Scheidung seiner Eltern, nicht an die Schlafstörungen, die er bis heute nicht ganz losgeworden ist, nicht an seine beschädigte Jugend. Sondern er denkt an ein Erlebnis an dem Tag, bevor Simon ins Heim kam. Kalter Regen fällt vom Himmel herab, und Simon rennt im T-Shirt und mit nackten Füßen aus dem Haus. Auf dem nahen Marktplatz steht ein altes Karussell. Simon steigt auf, Jonathan hinterher. Die Runden mit seinem Bruder auf diesem Karussell sind für ihn wie Fliegen. Simon lacht aus voller Kehle. »Mit Simon kann einem der Rest der Welt manchmal einfach egal sein.« Dafür liebe er den Autismus, sagt Jonathan Willett, dafür liebe er Simon.
DIE TOTALE FREIHEIT
Elvira Scholl (75) war streng erzogen worden. Bei ihrer Tochter wollte sie alles anders machen. Der antiautoritäre Geist der Sechzigerjahre bestätigte sie. Ihre Tochter Katharina Scholl (46) fühlt sich nicht frei erzogen, sondern frei von Erziehung. Und will bei ihrem Sohn auch wieder vieles anders machen.
Elvira Scholl ist 75 Jahre alt, doch scheint sie die Frische wie auch die Verletzlichkeit ihrer Jugend bewahrt zu haben. »Ich bin eine feine Seele«, sagt sie. Sie wirkt wie ein junges Mädchen voller Ahnungen, das die Dinge eher erspürt, als mit dem Kopf erfasst: »Ich weiß nicht wieso, aber ich wollte mein Kind einfach stillen. Das tat im Amerika der Sechzigerjahre sonst niemand. Mir schien es natürlich.« Sehr am Herzen liegt ihr, dass die Menschen »mit Freundlichkeit aufeinander zugehen«, bei lauten Tönen zieht sich alles in ihr zusammen. Und tatsächlich ist sie so liebenswürdig und sanft und erzählt auch Unverfängliches mit einer solch wohlig-ruhigen Ausführlichkeit, dass ein Morgen mit ihr einem Abgleiten in eine Traumwelt gleichkommt.
Sie sitzt in ihrem schönen Haus am Zollikerberg, hält die Hände im Schoß gefaltet und erzählt von ihrer Kindheit in Basel, wo sie zusammen mit einer herzensguten Mama, einem aufbrausenden Vater und einer sechs Jahre jüngeren Schwester in einem Mietshaus aufwuchs, dessen Hauswart schon die ganz kleinen Bewohner dazu erzog, die Haustür abzuwischen, sollte man sie achtloserweise mit den Händen berührt und Schmutzspuren hinterlassen haben. In der Schule gab es Schläge für schlechtes Betragen, ständig musste man gefasst sein auf ein hartes Wort. Elvira Scholl selbst traf es nie, »ich passte mich immer an«, aber sie war ein mitleidender Zeuge dieser Praxis. Wenn zwei Verliebte auf der Straße Hand in Hand gingen, erregte das öffentliches Aufsehen. Sie beobachtete, wie die Leute hinter den Vorhängen standen, guckten und tuschelten. Ebenso wunderte man sich über Elviras lange, blonde, glänzende Haare. »Wozu so lange Haare?«, wurde sie gefragt. Es war eine enge, strikte, zensierende Welt, durch die sie mit geduckter Haltung ging, wie unter einer niedersausenden Gerte.
Elvira Scholl rebellierte nur in ihren Wünschen. Sie wollte Kunstmalerin werden, »weil ich schöne Dinge liebe«. Aber in Basel gab es bereits eine Kunstmalerin, und die war mit einem Schwarzen liiert, das war suspekt. Ihre Eltern sagten, Kunst sei nichts Seriöses. Und so machte sie das Handelsschuldiplom. Sie wurde Sekretärin beim Institut für Marktforschung in Zürich und lernte dort ihren späteren Mann kennen, der aus Deutschland kam und der bald als Forscher im Fachgebiet Psychologie an eine amerikanische Universität gehen würde. Sie waren in allem gegensätzlich: »Er war nicht so behütet aufgewachsen, er war ein Kriegskind. Er war sehr selbstständig, praktisch, pragmatisch. Also alles, was ich nicht war. Ich lebte ja schon ein bisschen in einer eigenen Welt. Eigentlich tue ich das immer noch.«
Elvira Scholl erzählt, wie sie, obwohl sie sehr scheu und weder mit Selbstvertrauen noch mit Englischkenntnissen ausgerüstet war, höchstens mit einer Portion Abenteuerlust, wie sie diesem Mann in die unendlichen Weiten des Mittleren Westens der Vereinigten Staaten von Amerika folgte – dahin, wo die
Weitere Kostenlose Bücher