Liebe, lebenslänglich
habe: »Bis dahin konnten wir ihm viel mitgeben. Das ist alles drin in seinem Kopf.«
Er führt aus, wie das Kind Arno mit geistlicher Nahrung versorgt worden ist: Vor jeder Mahlzeit ein Gebet, nicht heruntergebetet, sondern mit Intensität und Inbrunst vorgetragen. Täglich eine kleine Abendandacht: eine ausgewählte Bibelstelle wird vom Herrn des Hauses vorgelesen mitsamt der Auslegung eines pietistischen Predigers. Passionsandachten am Donnerstag. Dazu Arnos Mitgliedschaft im Jugendkreis: zur körperlichen Ertüchtigung eine halbe Stunde Fußball und danach die »erbauliche Bibelarbeit« unter Anleitung eines pietistischen Laienpredigers, sie konnte Stunden in Anspruch nehmen. Die Sonntage verbrachte Arno am Morgen in der Osnabrücker Paulskirche, am Nachmittag im pietistischen Gebetskreis, wo man gemeinsam Reue und Buße tat und anschließend bei Kaffee und Kuchen zusammensaß. Feiertage waren noch intensiver: Von Osterfreitag bis Osterdienstag sind jeweils acht bis zehn Predigten in Arno eingegangen. Und während der Ferien sei Arno manchmal zur Bibelfreizeit gefahren, eine Art Lager unter pietistischer Anleitung.
Ob sich diese unerbittlich geschlossene Welt seiner Eltern in ihm niedergeschlagen habe, ist für Arno Orzessek keine Frage. Die Frage sei, wie. Er sagt: »Ich hoffe, dass ich nicht nur als der erscheine, der es anders gemacht hat als sein Vater.« Und: »Ich hoffe, dass in jedem Leben der Moment kommt, in dem man frei wählt und die Wahl nicht von der Vergangenheit bestimmt ist.« Gleichzeitig weiß er: »Egal, wofür du dich entscheidest, es ist der Gegensatz, der dich bestimmt.«
Arno Orzessek wohnt direkt unter dem Himmel. 99 Treppenstufen muss man überwinden, ehe man in seine helle Neuköllner Wohnung gelangt, wo er gerade ein ausgiebiges Frühstück anrichtet. Er wärmt die Kaffeetassen mit kochendem Wasser vor, er schneidet Brot, gibt Cherry-Tomaten in ein weißes Porzellanschälchen, und als voreingenommene Beobachterin kann ich nicht anders, als in seinen Gesten eine andächtige Konzentration zu entdecken, wie sie in einem Gottesdienst oft nur beschworen wird. Doch er ist nicht jemand, der die Befehle aus dem Bauch verleugnen wollte. Von Selbstkasteiung hält er nichts: »Ich bin nicht wie meine Großmutter, die das Ende ihrer Tage in einem abgedunkelten Zimmer verbrachte, fadendünn, weil sie sich von einer Banane immer nur die halbe zugestand.«
Tatsächlich ist er von kräftiger Statur, wirkt stark und gleichzeitig empfindsam. Er hat ein feines, bewegliches Gesicht, das manchmal hochgemute Züge annehmen kann: »Es gibt Leute, die behaupten, ich hätte etwas von einem Priester«, sagt er, und diese Aussage beziehe sich auf sein Aussehen, aber nicht nur. Denn das, was er in seiner Kindheit oft erlebt hat, dass nämlich pietistische Prediger, meist Laienprediger, »aufstehen und das Wort ergreifen« und dann eineinhalb Stunden konzise reden, vermag auch er. Der Glaube an das Wort hat sich ihm vermittelt. Auch er vermag die Welt in Worten aufzuheben, nur ist es bei ihm nie die jenseitige Welt, an deren Sprachwerdung er sich berauscht, ihm geht es um die hiesige: Jedem Ding begegnet er mit einer erstaunlich gleichschwebenden Aufmerksamkeit. Er streut jetzt Pfeffer über die Tomaten und bedauert, dass er im Moment nicht die richtige Pfeffermühle hat, die ließ er nämlich liegen beim achtzigsten Geburtstag seines Vaters, zu dessen Ehren er das Festmahl bereitete.
Es folgt eine kleine Lektion über die Unterschiede verschiedener Pfefferarten, Sezuan-Pfeffer versus Grüner Pfeffer zum Beispiel, und die Frage, was Arno Orzessek wohl lieber mag, den Pfeffer oder die Predigt darüber, ist nicht einfach zu beantworten. Auf dem Balkon hat er einen kleinen Kräutergarten angelegt, die Rosenstöcke gedeihen prächtig, die Oleander auch, und Arno Orzessek ist jederzeit in der Lage, die Gedanken, die ihn bei der Bepflanzung angeleitet haben, zu einem Vortrag auszuweiten, der beim Majoran anfängt und bei der Erfahrung des Erhabenen unter dem nächtlichen Sternenhimmel nicht aufhören muss: »Es ist die Konfrontation mit dem Unendlichen, die ich stark empfinde. Die Ahnung, dass es eine Ordnung der Dinge geben könnte, von der wir nicht wissen.« Das lasse er dann so stehen, weiterer Erklärungen bedürfe er nicht, er drifte weder in Esoterik noch in Wissenschaft ab, schon gar nicht in Religion. Er verbindet diese Art von Empfindungen mit Musik, etwa mit Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion , ohne
Weitere Kostenlose Bücher