Liebe, lebenslänglich
gegenüber. Pietisten pflegen die Gemeinschaft unter Gleichgesinnten und grenzen sich von denen ab, die nicht Kinder Gottes sind. Sein Sohn hat mir erzählt, dass sein Vater »die Stätten der Sünde« meide. Ich trage roten Lippenstift und Schuhe mit hohen Absätzen. Und ich weiß, dass Willi Orzessek in solchen Belangen sehr klare Vorstellungen hat, das hat mir seine Frau Gertrud erzählt. Er heiratete sie, nachdem seine erste Frau, die Mutter Arnos, 1992 gestorben war. Gertrud Orzessek hat auch »zu Jesus gefunden«, wie sie sagt, doch sie ist nicht Pietistin.
Was am Anfang zu Diskussionen führte. Denn sie mag Hosen, Theater, Kino, Fernsehen. Ihr Mann hingegen ist es gewohnt, dass Frauen Röcke tragen. Und Theater, Kino, Fernsehen lenken in seinen Augen ab von Gottes Wort. »Man verbringt dann weniger Zeit mit Jesus«, sagt er.
Er und seine heutige Frau haben sich so geeinigt, dass sie keinen Fernseher haben. Dass sie Hosen trägt, wann immer sie will, und dass sie ins Kino oder Theater geht, aber alleine. Willi Orzessek bringt sie sogar hin, nur geht er nicht hinein.
Das sei typisch für seinen Vater, sagt Arno Orzessek. Sein Vater werde nicht von der Sünde angefochten, sondern von seiner fortschreitenden Toleranz.
In seiner Jugend zum Beispiel seien nach dem Abendessen immer diese »beklemmenden Abendandachten« gehalten worden. Heute lasse sein Vater für Besucher auch mal ein Kartenspiel gelten, obwohl das in seinen Augen Teufelszeug sei, mitspielen würde er natürlich nie. Und oft habe er den häuslichen Frieden mit »Nicht-wissen-wollen« geschützt, etwa wenn sein Sohn wieder mal viel zu spät oder angetrunken nach Hause gekommen war. Nur einmal habe sein Vater die Gelegenheit genutzt und versucht, ihm eine Lektion zu erteilen. Das war kurz vor dem Abitur. Er war mit dem Fahrrad auf dem Weg zu seiner Freundin, wurde von einem Auto angefahren und kam ins Krankenhaus. »Da konnte er es tatsächlich nicht lassen, mir unterzujubeln, dieser Unfall sei ein Fingerzeig Gottes.«
Heute treffen er und sein Vater einander ein- bis fünfmal im Jahr, und diese Sparsamkeit der Kontakte helfe, dass die Begegnungen angenehm bleiben. Sie reden von dem, was gewesen ist, und weniger von dem, was ist: »Von meinem Alltag in Berlin weiß er nichts.« Und er halte seine Neugier wohl bewusst und klugerweise klein.
Der Vater ist nicht nur diskret, er unterstützt seinen verlorenen Sohn sogar. Er gewährte ihm einen Privatkredit, damit er seinen 647-Seiten-Roman schreiben konnte. Die Kritik hat Schattauers Tochter teils verrissen, teils hoch gelobt, der Vater aber hat ihn auf Anraten seiner Tochter schlussendlich gar nicht gelesen. Für Arno Orzessek ist dieser Kredit dennoch ein Beweis dafür, dass sein Vater in den letzten Jahren »neben seiner pietistisch geprägten Intoleranz eine menschliche Toleranz entwickelt hat«. Und er ist nicht unglücklich, dass sein Vater den Roman nicht gelesen hat. Die Lektüre hätte ihre Beziehung aufspringen lassen können, allein schon wegen der Sprache, die er verwendet habe und die sein Vater wohl als gotteslästerlich empfinden würde. »Und seinem pietistischen Gewissen ist er am allertreuesten«, sagt Arno Orzessek. Er nennt ihn deshalb gerne den »Heiligen von Osnabrück-Schinkel«.
Ein Leuchten, das man vielleicht tatsächlich als heiliges Leuchten wahrnehmen könnte, huscht Willi Orzessek übers Gesicht, wenn er von den Erweckungen nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt. Erweckt im Sinne der Pietisten ist ein Mensch, wenn er seine Erlösungsbedürftigkeit erkannt hat und bereit ist zur geistigen Erneuerung. »Das ist eine Zeit gewesen, wo die Leute gerne auf Gottes Wort hörten«, sagt er.
Er habe im Alter von siebzehn Jahren begriffen, »dass wir Menschen es nicht alleine schaffen, dass wir uns immer wieder zu unserer Schuld bekennen und Buße tun müssen«. Seither hat er sein Leben mit einer auf Außenstehende extravagant wirkenden Ausschließlichkeit auf die Ewigkeit ausgerichtet.
Seiner Erweckung gingen Jahre der Not voraus. Er kam 1933 als elftes von zwölf Kindern zur Welt. Sein Vater starb 1943 an den Spätfolgen seiner Verletzungen aus dem Ersten Weltkrieg. Bis Januar 1945 harrte seine Mutter auf dem Hof im damaligen Ostpreußen und heutigen Ostpolen aus, dann setzte sie zur Flucht an. Zu spät.
Mit zwölf Jahren hat Willi Orzessek erlebt, wie Menschen, die er nicht kannte, vor seinen Augen getreten, geprügelt, erschossen wurden. Er hat erlebt, wie seine Schwester bei
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