Liebe, lebenslänglich
Idealist, der sich als leidenschaftlicher Benutzer der Bibliothek Osnabrück, Zweigstelle Schinkel, weit entfernt hatte von der ausschließlich geistlichen Literatur zu Hause. Er sei sich diese Gefechte quasi selbst schuldig gewesen, sagt er: »Argumentativ satisfaktionsfähig zu sein, das war für mich eine Frage der Ehre.«
Das war der laute Bruch mit der Welt seines Vaters, den er am Ende seiner Jugend von sich verlangte. Warum ihm aber diese Welt, in die er hineingeboren wurde, fremd war, und zwar von allem Anfang an, das konnte Arno Orzessek nie erklären. Und er kann es immer noch nicht: »Es ist mir bis heute unbegreiflich, warum ich mich da nie zugehörig fühlte.«
Willi Orzessek vermutet, die Ungläubigkeit seines Sohnes sei womöglich auf ihn, den Vater, zurückzuführen. Wobei er dabei nicht, wie das ein anderer Vater wohl tun würde, die Beziehung hinterfragt, die er zu seinem Sohn hatte. Sondern er zweifelt an seiner Beziehung zu Gott, in der sich der Glaube seines Sohnes reflektiere: »Vielleicht habe ich einfach nicht genug gebrannt für Jesus. Wenn der Glaube zu schwach ist, verlöschen die Funken und werden schwarz. Vielleicht konnte ich Arno zu wenig anstrahlen mit dem Licht meines Glaubens.« Gleichzeitig fragt er sich, ob er nicht zu viel Glaubensdruck auf seinen Sohn ausgeübt habe. »Mag ja sein, dass ich hie und da etwas überzogen habe«, sagt er, »hätte ich jedoch zu wenig gemacht, hätte ich mich vor Gott versündigt.«
Doch Selbstvorwürfe scheinen ihn dabei nicht zu quälen. Auch wenn er solche Fragen abwägt, macht er den Eindruck eines Menschen, der sein Leben ganz und gar auf die Notwendigkeiten des Glaubens ausgerichtet hat und darin aufgeht. Selbst in dunklen Stunden fühlt er sich beschützt. »Wenn mich etwas bedrückt«, sagt Willi Orzessek, »dann gebe ich das Jesus im Gebet ab«, und selbstverständlich fällt ihm die dazu passende Bibelstelle ein: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.«
In einer neueren Übersetzung heiße es nicht mehr »erquicken«, sondern »Ruhe geben«, ruft seine Frau aus der Küche.
Für Willi Orzessek machen beide Übersetzungen Sinn, denn: »Gott gibt Geborgenheit und Kraft, beides.«
Arno Orzessek jedoch vermutet, dass sein Vater viel Angst um ihn hatte und immer noch hat. Denn er, Arno, erfülle die väterliche Primärtugend des Christseins ganz und gar nicht. Und er verstoße damit in den Augen seines Vaters nicht gegen seine, also des Vaters Gebote, sondern – viel schlimmer – gegen die Gebote des Allmächtigen.
Für einen Pietisten wie seinen Vater sei das irdische Leben nur ein Tränental, das man möglichst gottgefällig zu durchschreiten hat, um das eine, wirkliche Ziel zu erreichen: das himmlische Jerusalem, die ewige Seligkeit. Und am Ende gibt es nur zwei Möglichkeiten: Rettung oder Verdammnis, Himmel oder Hölle, man schafft es oder eben nicht. »Für einen pietistischen Vater muss es also eine große Sorge sein, wenn sein Sohn sich sozusagen willentlich dem Teufel in die Hände gibt.«
Willi Orzessek sagt, er bete für alle seine Kinder, denn solange dieses Leben hier auf Erden fortdauere, sei keiner am Ziel. Und natürlich bete er insbesondere für Arno. Er zitiert die Bibelstelle, die anzeigt, was beim Jüngsten Gericht geschehen könnte: »Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: ›Herr, Herr! Haben wir nicht in deinem Namen viele Taten getan?‹ Dann werde ich ihnen bekennen: ›Ich habe euch noch nie erkannt; weichet alle von mir, ihr Übeltäter!‹« Er wiederholt den Satz »Ich habe euch noch nie erkannt«, und er wiederholt ihn ein zweites Mal, mit halb geschlossenen Augen.
Auf die Frage, wie er mit der Vorstellung umgeht, dass sein Sohn auf ewig verstoßen werden könnte, lächelt er und schweigt. Dann sagt er, er glaube, getan zu haben, was in seiner Macht stehe. Und Gott habe dem Menschen einen freien Willen geschenkt. »Himmel und Erde sind meine Zeugen: Ich habe euch heute Segen und Fluch, Leben und Tod vor Augen gestellt. Wählt das Leben, damit ihr am Leben bleibt, ihr und eure Nachkommen«, zitiert er die Heilige Schrift.
Seine Frau lässt nicht zu, dass ihr Mann Bibelverse vorschiebt. »Aber es ist doch schon ein Schmerz für dich, das mit Arno, das hast du doch gesagt«, ruft sie aus der Küche. Willi Orzessek bestätigt nicht und verneint nicht, er schweigt freundlich.
Sein Schweigen kann Ausdruck von Schmerz sein oder auch von Misstrauen mir
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