Liebe, lebenslänglich
die die Passionszeit für ihn keine sei. Er sagt, dass er mit Hilfe dieser Musik die Grenzen des Rationalen überschreite und in einen Zustand der Trunkenheit eingehe, der ihn für eine gewisse Zeit arbeitsunfähig mache. Er geht nochmals in die Küche, um Kaffee zu holen, und summt dazu den Anfang eines Chorals aus der Matthäuspassion, »O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn«, Liedtext Paul Gerhardt, sagt er, verglichen damit seien heutige Kirchenlieder wie »Herr, Deine Liebe ist wie Gras und Ufer« nur laue Luft.
Er ist mit dem Kaffee zurück und inzwischen beim Philosophen Friedrich Nietzsche angelangt, genauer bei dessen Betrachtung des Daseins als ästhetisches Phänomen. Überhaupt seien ihm die Problemkonstellationen des Pfarrersohnes Nietzsche sehr vertraut. Christ und Anti-christ, Moral und Überwindung der Moral, Erkenntnis und Empfindung am Beispiel der Musik.
Und nochmals schlägt er einen Bogen zur Musik: »An die Musik, die sich mir durch den Pietismus vererbte, erinnere ich mich gern«, sagt er. Die Popkultur der Siebzigerjahre sei zwar vollkommen an ihm vorbeigegangen, »und das konnte ich mit zwanzig auch nicht mehr nachholen«, doch für die Orgelmusik, die Musik der Bläser und der gemischten Chöre, die er in seiner Kindheit und Jugend aufgesogen habe, »wahre Perlen zum Teil«, kann er sich bis heute begeistern.
Mit seinem Auftreten, seinen Vorlieben und seinen Gewohnheiten zeigt Arno Orzessek, wie empfänglich er geblieben ist für die Reize, die die Religion bereithält. Allerdings missachtet er das Religiöse daran. Er lässt es nicht ganz verschwinden, aber er raubt ihm den Sinn. Was bleibt, ist die Form. Die Form ist der Sinn, auch das ist ein Gegensatz zu seinem Vater, der ihn, Arno, offensichtlich bestimmt.
Und natürlich ist es dieser Gegensatz, der den Vater bei aller Zuversicht zweifeln lässt an der Möglichkeit, dass sein Sohn eines Tages im biblischen Sinne zurückkehren und er ihn in die Arme schließen könnte. »Wie heißt es in der Bibel von unserem Reformator Doktor Martin Luther?«, fragt Willi Orzessek und gibt sich die Antwort gleich selber: »Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden.«
Bei Arno hingegen sei es so, sagt Willi Orzessek, dass er schon früh den Eindruck gehabt habe, dass dieser bete, ohne die Worte zu empfinden, die er sprach. Bereits als Kind sei Arno ohne rechten Glauben gewesen, als Jugendlicher erst recht. Sein Sohn habe, so glaubt der Vater, den Segen Gottes nie wirklich in sich aufgenommen.
Arno Orzessek bestätigt, was der Vater ahnt. Er sagt, eines der ersten Gefühle, an das er sich ziemlich sicher zu erinnern glaube, sei das der Nichtzugehörigkeit. Das Gefühl, am falschen Ort geboren worden zu sein. Er habe sich eigentlich nie vom Glauben abgewendet, weil er gar nie gläubig war. Er habe sich nie als Pietist gefühlt, nie als Kind Gottes.
Der Pietismus habe bei seinen Geschwistern verfangen, bei ihm nicht. Reagiert hat aber auch er darauf. Er hätte diese Erziehung zu Gott zähneknirschend über sich ergehen lassen oder sich einfach entziehen können. Arno Orzessek jedoch suchte die lautstarke Auseinandersetzung, vor allem mit dem Vater. Mit der Mutter sei das nicht möglich gewesen, sie habe argumentativ sofort aufgegeben oder sich in irgendwelche Satzplagiate geflüchtet. Ihre Wirkung habe eher darin bestanden, dass sie zwar stumm, doch unübersehbar präsent gewesen sei und sein Verhalten missbilligt habe.
Von den Gesprächen mit seinem Vater hingegen hat Arno Orzessek sich zur Raserei treiben lassen, zu einem unheiligen Zorn, wie er sagt. Er wollte den Vater in unauflösbare Widersprüche verstricken, seinen Glauben mit Fragen löchern und in den Fundamenten erschüttern. Er wollte zum Beispiel wissen, warum für Christen die Welt als Ganzes Gottes Wille sein könne, wo die Sünden doch dem Einzelnen angelastet würden. Also wie Gott allmächtig und der Mensch gleichzeitig frei sein könne. Doch mit solchen Angriffen war sein Vater nicht aus der Ruhe zu bringen, er konnte sich ja jederzeit auf den unergründlichen Ratschluss des Allmächtigen zurückziehen: »Aus weltlicher Sicht bleibst du vielleicht weise, nur was ist schon die weltliche Sicht.«
Natürlich wusste Arno Orzessek bereits damals, »dass ein Glaube kein Glaube wäre, wenn er sich mit sprachanalytischer Präzision durchsetzen ließe«. Doch er war ein pubertierender intellektueller
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