Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
riesigen Schranktüren auf. Die Einbauschränke sind tiefer, als ich dachte. Vom Boden bis zur Decke stapeln sich in den Regalböden Schallplatten, weitere Bücher und Kartons, jeder davon mit einer Jahreszahl beschriftet. Anton nimmt den Karton mit der Aufschrift »2001« heraus: das Jahr, in dem mein Vater starb. Er stellt den Karton auf das Bett und blättert flink Papierhüllen durch, bis er eine davon herauszieht. Dann stellt er den Karton auf den Boden und setzt sich auf das Bett. Ich setze mich neben ihn.
»Wir haben uns super verstanden, dein Vater und ich. Ich war in den Staaten, als er starb. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich gerade einen neuen Freund gefunden und schon wieder verloren. Ich habe es leider erst nach seiner Beerdigung erfahren, sonst wäre ich eigens dafür zurückgekommen.«
»Ich habe auf seiner Beerdigung Mr. Bojangles gesungen«, sage ich leise. »Das war sein Lieblingssong.«
Anton öffnet die Papierhülle und nimmt einen Kontaktbogen heraus – ein großes Blatt Fotopapier mit vierundzwanzig Miniaturbildern darauf –, und da ist mein Dad. Mein Dad vor zehn Jahren. Mein Dad, wie ich ihn in Erinnerung habe. Tanzend in einem Saal der Pineapple Dance Studios, in seiner Jeans und seinem Ramones-T-Shirt. Bei Dad sah das Tanzen immer so frei und leicht aus. Auf einigen Aufnahmen dreht er sich, auf anderen springt er, und es gibt Nahaufnahmen von seinem lachenden Gesicht. Die Kamera hat ihn perfekt eingefangen. Wenn ich Fotos von Dad betrachte, haben sie oft keine Ähnlichkeit mit dem Vater, den ich in Erinnerung habe – er sieht darauf aus wie irgendein Tänzer mitten in der Bewegung. Aber diese Bilder hier zeigen, wie er wirklich war – zeigen den Mann, an den ich mich liebevoll erinnere. Sie geben seinen Charme und das Funkeln in seinen Augen wieder. Ich wünschte, die Bilder wären größer.
»Wir können sie vergrößern lassen, wenn du möchtest. Sie gehören dir, Grace.«
»Ich finde es gut, wenn sie hierbleiben.«
Ich kann die Augen von den Bildern in meiner Hand nicht lösen.
»Was dir am liebsten ist.«
»Er wirkt so lebendig«, flüstere ich. Mein Vater war unheimlich dynamisch. Er lebte jeden Moment bewusst, und in seiner Gesellschaft tat man das unwillkürlich auch. Er schenkte mir so viele wundervolle Momente.
»Wir hatten damals einen tollen Nachmittag.«
»Worüber habt ihr euch unterhalten?«
»Oh, es war ziemlich tiefgründig.«
»Inwiefern?«
»Na ja, er wollte alles darüber wissen, wie ich zur Fotografie gekommen bin.«
Ich lächle. Das ist typisch Dad: Er liebte es, den Menschen ein bisschen auf den Zahn zu fühlen, um herauszufinden, was sie machten und was sie mochten. Er liebte Menschen und ihre Geschichten.
»Also erzählte ich ihm von meiner Zeit on the road , und daraus entwickelte sich ein recht langes Gespräch über Musik. Dein Vater kannte sich wirklich aus in der Musik. Ich erzählte ihm dann, dass ich schon immer gern fotografiert habe und dass ich eines Tages den Mut aufbrachte, meine Bilder Leuten zu zeigen, die etwas von Fotografie verstanden. Es hat sich gelohnt und mir den Weg geebnet, mit meinen Aufnahmen Geld zu verdienen. Wir diskutierten darüber, dass man, um ein wahres Leben zu führen, an jeden Moment glauben muss, auch wenn das oft Risiken birgt. Man trifft selten Menschen, mit denen man so gut philosophieren kann. Philosophieren über das Leben und darüber, wie man ein gutes Leben führt. Dein Vater war ein ganz besonderer Mensch, Grace.«
Ich stecke den Kontaktbogen sorgfältig zurück in die Papierhülle.
»Ich bin froh, dass du ihn kennengelernt hast«, sage ich und gebe ihm die Hülle zurück.
»Sollen wir runtergehen und singen?«, fragt Anton und steht auf. »Wir sind unter uns.«
Ich stehe auch auf, schüttle jedoch den Kopf, dann sehe ich Anton in die Augen und beginne, meine Bluse aufzuknöpfen. Meine Hände zittern. Ich habe so was noch nie zuvor getan, und ich möchte nicht, dass er mich für eine Schlampe hält. Ich will nur, dass er weiß, dass ich ganz und gar ihm gehöre – für immer, wenn er möchte. Ich lasse meine Bluse auf den Boden fallen. Es ist so still. Es kommt mir vor, als würde ganz London meinetwegen den Atem anhalten. Ich bin mir nicht sicher, was ich jetzt tun soll. Meine Leggings müssen als Nächstes runter, aber das wird definitiv unelegant aussehen. Vielleicht sollte ich Antons Hemd aufknöpfen? Ich sehne mich unheimlich danach, seine Brust zu berühren, seine Haut. Oder soll ich
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