Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
ab. Er macht den Eindruck, als wolle er mich in den Arm nehmen. Bitte nicht, denke ich. Und als könnte er meine Gedanken lesen, lächelt er und setzt sich wieder.
»Setz dich auf die Couch«, sagt Wendy behutsam. »Ich mache dir einen Tee.«
Sie trippelt davon, und ich lasse mich auf die Couch plumpsen und starre auf das braune Leder.
»Sie haben ein neues Kaufangebot«, sagt John mit seiner Ich-spreche-mit-einer-unter-Fünfjährigen-Stimme.
Ich hebe den Kopf und hoffe, dass es für Claires Wohnung ist.
»Für das Apartment auf der Harrow Road.«
Ich starre wieder auf das Leder.
»Die … äh … die neuen Penthouse-Wohnungen sind fantastisch.«
»Ja, echt spitze, Grace«, ruft Wendy. »Du solltest mal die Küchen sehen. Das ist wie in einem Kinofilm. John, erzählen Sie ihr von der Kirche, die neu reingekommen ist.«
»O ja, heute Morgen haben wir ein neues Objekt bekommen, das Ihnen gefallen wird. Zwei Millionen, aber das ist es wert. Es handelt sich um eine umgebaute Kirche. Unglaublich, was die Eigentümer daraus gemacht haben … Grace, ist alles in Ordnung?«
»Hier kommt der Tee!« Wendy ist zurück. »Und, wie fühlen wir uns?«
Sie setzt sich neben mich auf die Couch.
»Sie ist nicht besonders gesprächig«, sagt John. »Stimmt’s, Grace?«
Ich sehe ihn nur an. Eine Weile sagt niemand etwas.
»O nein«, sagt Wendy schließlich. »Komm schon, Grace , sag etwas. Irgendwas. Von mir aus, dass ich mich verpissen soll. GRACE .« Es ist die strenge Wendy-Stimme. » SPRICH MIT MIR !«
»Wendy, sie steht offenbar unter Schock. Sie sollten sie nicht anschreien.«
»Doch, genau aus diesem Grund muss ich sie sogar anschreien. GRACE ! Oh, das ist nicht gut. Ich kann mich nicht erinnern, was ich beim letzten Mal gemacht habe, um sie wieder zum Sprechen zu bringen.«
»Wie bitte?«
»Vor ein paar Jahren hat sie monatelang nicht gesprochen. Ich weiß nicht mehr, was dazu geführt hat, dass sie wieder anfing zu reden.«
Als ich neulich darüber nachdachte, dass der Tod meines Vaters keine Neurosen bei mir ausgelöst hat, abgesehen davon, dass ich kein Radio mehr höre, habe ich dieses Symptom ganz vergessen. Es kommt nur sehr selten vor, deshalb zählt es eigentlich nicht. Es ist nämlich so, dass ich nach einem plötzlichen Schock aufhöre zu sprechen. Ich weiß, das ist albern. Nach Dads Tod haben alle anderen geheult und geredet. Ständig kam Besuch, und jeder wollte die Stille übertönen. Ich fand Gefallen an der Tatsache, dass ich im Kopf meinen Vater reden und singen hören konnte. Eine Ewigkeit fiel das niemandem auf, selbst mir nicht. Alle waren am Boden zerstört durch Dads Tod. Mum, ihr Trainer, ihr Manager, andere Tänzer, Freunde. Erst als die nette Dame, die früher neben uns wohnte, meine Mutter darauf ansprach und vorschlug, einen Arzt aufzusuchen, wurde den anderen bewusst, dass ich seit Wochen stumm war. Mum dachte, ich wollte nur die Aufmerksamkeit auf mich lenken, aber die nette Nachbarin begleitete mich zu einer Ärztin, die mich untersuchte. Ich glaube, die Ärztin tat sich schwer mit mir, weil ich keine ihrer Fragen beantwortete. Unsere Nachbarin war wirklich sehr nett. Sie ist vor Jahren nach Australien gezogen, aber wir schreiben uns immer noch. Zum Einzug in meine Wohnung hat sie mir einen Gutschein für ein Einrichtungshaus, Homebase, geschenkt, was witzig ist, wenn man darüber nachdenkt, schließlich lebt sie jetzt in Australien.
»Ist jemand gestorben?«, flüstert John, obwohl das gar nicht nötig wäre, weil wir ihn alle verstehen können.
»John, vielleicht sollten Sie uns allein lassen.«
»Wie Sie wünschen. Allerdings muss ich Ihnen sagen, Wendy, ich würde auch keinen Ton von mir geben, wenn Sie mich so anbrüllen würden. Grace hat einen Schock, und sie möchte nicht reden. Wir sollten das respektieren. Wir sollten Ruhe bewahren, vielleicht entspannt sie sich dann ein wenig. Warum gehen wir nicht rüber zum Italiener, eine Pizza essen? Wir brauchen uns ja nicht zu unterhalten. Wir können Zeitung lesen. Kommen Sie, ich lade Sie ein.«
Das ist nett von Posh Boy, denke ich. Ich sehe ihn an und überlege, ob ich ihm gegenüber vielleicht ein bisschen zu grob war. Er war nett nach meinem Überfall, und er ist auch jetzt nett, obwohl ich mich wie ein Zombie verhalte. Hätten wir uns unter anderen Umständen kennengelernt, wäre er nicht einfach so aufgetaucht, hätte mir meinen Job weggenommen und mich bis zum Überdruss genervt, dann hätten wir vielleicht Freunde
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