Liebe mit Schuss
um und warfen ihnen böse Blicke zu. Die Dicke neben ihr zischte: »Psst!«
Auf einmal fiel Jamie der Streit wieder ein, in dem sie sich am Abend zuvor getrennt hatten. »Hau ab«, flüsterte sie. Sie drehte sich wieder um, doch es kribbelte in ihrem Nacken. Sie konnte Max’ Blicke spüren. Sollten ihm ruhig die Augen rausfallen beim Anblick der neuen Jamie Swift.
Das Lied ging zu Ende und Harlan blieb lächelnd vor seiner Gemeinde stehen. Sein Blick schweifte über die Menge und er nickte mehreren Leuten zu, die er zu kennen schien.
»Meine Brüder und Schwestern, es ist wundervoll, wieder zurück in Sweet Pea, Tennessee, zu sein«, sagte er. Die Menge jubelte. Jamie spürte etwas am Ohr.
»Wieso bist du wie ein Flittchen angezogen?«, wollte Max wissen.
Die Menschen waren so mit Klatschen beschäftigt, dass sich diesmal niemand aufregte. »Ich bin hier, um meine Story zu kriegen, Max«, entgegnete sie.
»In dieser Aufmachung?«
Sie lächelte und klimperte mit ihren langen Wimpern. Sie waren ebenso falsch wie ihr aufgemotzter Ausschnitt, der ihr T-Shirt zu sprengen drohte. Toll, was man mit einem Paar künstlicher Wimpern und einem guten Push-up alles erreichen konnte. »Ja.«
Jamie bekam den Ellbogen der Dicken in die Seite. Sie bedachte sie mit einem bösen Blick und drehte sich wieder nach vorne.
Harlan wartete, bis sich alles beruhigt hatte, bevor er weitersprach. »Ich war wochenlang unterwegs, habe in Motels übernachtet und die Tage bis zu meiner Heimkehr gezählt. Und jetzt bin ich wieder daheim, daheim bei meiner Familie und meinen Freunden, daheim in meinem eigenen Bett. Lob sei Gott dem Herrn!«
Diesmal lachten die Leute und applaudierten abermals, und Harlan lachte mit ihnen. Er hatte makellose, strahlend weiße Zähne, die in seinem gebräunten Gesicht umso mehr auffielen. Jamie fand, er gehörte in eine Zahnpastareklame. Sein marineblauer Anzug, offensichtlich maßgeschneidert, umhüllte einen athletischen Körper und hob sein blondes Haar vorteilhaft hervor.
»Das alte Sprichwort hat Recht«, erklärte er. »Es ist nirgends besser als daheim.« Noch mehr Applaus. Dann wurde er wieder ernst und schloss die Augen. »Lasset uns beten.«
Als das Gebet zu Ende war, trat Rawlins an den Rand der Plattform. Er hatte die Gewohnheit, innezuhalten, bevor er sprach, als wolle er abwarten, bis jedes Auge auf ihn gerichtet, jedes Ohr ihm zugewandt war.
»Wisst ihr eigentlich, Brüder und Schwestern, wie gesegnet wir sind? Wir haben mit unserem Programm Tausenden Brot gegeben, und jedes Jahr machen sich unsere jungen Mitglieder auf in die ärmsten Gegenden, wo die Ärmsten der Armen die Kälte nur mit Plastikplanen oder Pappe fern halten können, und dort helfen sie, so gut sie können, stopfen die Löcher in den Dächern, setzen neue Fensterscheiben ein. Dennoch gibt es noch genug Mitmenschen, meine lieben Brüder und Schwestern, die selbst heute weder fließend Wasser noch Strom haben. Gott segne all die örtlichen Freiwilligen, die in so viele Heime gingen und mit ihrem Talent dafür sorgten, dass diese Armen jetzt viele der Dinge genießen können, die wir für selbstverständlich halten.«
Eine Pause. »Aber wisst ihr was? Den Menschen Brot zu geben und sie trocken und warm zu halten, ist nicht genug. Mutter Theresa ist einmal gefragt worden, was die Menschen auf der Welt am meisten brauchen, und ihre Antwort war überraschend.« Sein Blick schweifte über die Gemeinde. »Was glaubt ihr, Brüder und Schwestern, was ist es, das die Menschen heutzutage am dringendsten brauchen?«
Harlan legte die Hände hinter dem Rücken zusammen und ging auf der Tribüne auf und ab. »Wisst ihr, wenn mir jemand diese Frage gestellt hätte, ich hätte erst ein wenig nachdenken müssen. Wir werden mit Bildern von Hungernden in den Ländern der Dritten Welt überschwemmt, von krebskranken Kindern oder Kindern, die unter schwersten Verbrennungen leiden, deren täglicher Begleiter der Schmerz ist, und wir sehen all die allein erziehenden Mütter und Väter, die wegen der astronomischen Scheidungsraten versuchen müssen, für ihre Kinder beides zugleich zu sein. Viele dieser Mütter und Väter können sich keine Betreuung leisten, und ihre Kinder bleiben notgedrungen sich selbst überlassen. Und wenn man sich nicht genug um Kinder kümmert, dann geraten sie schnell auf die schiefe Bahn. Und wo führt das hin, was glaubt ihr?«
»In den Knast!«, rief ein Mann.
»Jawohl, Sir«, entgegnete Harlan. »Diese Kinder
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