Liebe ohne Schuld
sie als ihr Recht erachten?«
Er schwieg, weil er den entsetzlichen Verdacht hatte, daß sie im Recht sein könnte. Dann erhob er sich, strich ihr leicht über die Wange und verließ den Raum.
Ein kleiner Fetzen eines dunkelbraunen Wollstoffs, den man in der Nähe der fraglichen Stelle an einem tiefhängenden Ahornast gefunden hatte, war die einzige Spur. Sein erster Weg führte Burke hinüber zum Haus von Sir Edward Pottenham, das etwa drei Meilen von Ravensworth Abbey entfernt lag.
Sir Edward war ein etwas wunderlicher, alter Mann, der sich mit Hingabe seiner Schmetterlingssammlung widmete, und es kostete Burke einige Überredung, eine Besichtigung abzulehnen. Den angebotenen Brandy nahm er jedoch gern an.
»Nun, mein Junge, was führt Sie her?«
Burke berichtete ihm, was sich ereignet hatte.
»O, das ist ja entsetzlich! Und von dem Mann gibt es keine Spur?«
»Nein, nur dieses kleine Stück Wollstoff. Er muß bei der Flucht mit seinem Mantel hängengeblieben sein. Glücklicherweise hat unsere Wäscherin so rasch auf die Hilferufe reagiert, daß er nicht ganz spurlos davongekommen ist.«
»Hoffentlich bekommt das arme Mädchen kein Kind, sonst findet sie womöglich keinen Mann.«
Burke hatte noch deutlich Arielles Worte im Ohr. »Was wird mit ihm geschehen, wenn wir ihn erwischen?«
Sir Edward brach in schallendes Gelächter aus. »Nun, wenn er nicht verheiratet ist, wird er das Mädchen heiraten müssen.«
»Aber er hat sie doch vergewaltigt! Da wird sie ihn doch nicht wollen.«
»Ach, wissen Sie, meistens schreien diese Dinger so laut, wenn man sie erwischt! Bestimmt ist der Mann ihr Liebhaber, oder vielleicht hat sie ihn ja auch verführt. Sie wissen doch, wie diese Mädchen sind. Ich wette, sie hat ihn vorher schon gekannt!« Er lachte und schlug Burke kräftig auf den Rücken. »Jetzt kennt sie ihn noch ein bißchen besser, nicht wahr? Noch einen Brandy?«
Das ist nicht gerecht, dachte Burke, während er nach Ravensworth Abbey zurückritt, wo Mrs. Pepperall bereits auf ihn wartete.
»Wie geht es Mellie?« fragte er.
»Den Umständen entsprechend gut. Allerdings halte ich es« – sie druckste ein wenig herum – »für besser, daß wir sie aus dem Haus entfernen, um den anderen Mädchen eine Lektion zu erteilen.«
Fassungslos starrte Burke sie an, doch es schien ihr wirklich ernst zu sein.
»Kann ich sie entlassen, Mylord?«
»Aber es war doch überhaupt nicht ihre Schuld. Der Mann hat sie doch vergewaltigt!«
»Das behauptet Mrs. Tibbens«, bemerkte Mrs. Pepperall verächtlich.
»Ich habe keinen Grund, das anzuzweifeln. Sie haben das Mädchen doch selbst gesehen! Ihr Kleid war völlig zerrissen. Sie können sie doch nicht einfach für etwas verantwortlich machen, was man ihr angetan hat! War Doktor Brody schon hier?«
Mrs. Pepperall war entrüstet. »Aber natürlich
nicht,
Mylord! Weshalb denn auch?«
Burke fixierte sie. »Sie kann doch innere Verletzungen haben. Lassen Sie auf der Stelle Doktor Brody holen!«
Mrs. Pepperall begriff die Welt nicht mehr. »Wenn wir das tun, dann weiß es heute abend ganz East Grinstead.«
»Na wunderbar! Dann finden wir den Schuldigen viel leicht leichter. Richten Sie Doktor Brody aus, daß ich ihn sprechen möchte, wenn er Mellie untersucht hat.«
»Ja, Mylord.«
»Und noch etwas: Mellie wird selbstverständlich hier bleiben. Ich will nicht, daß Sie ihr die Verantwortung an dieser Vergewaltigung zuschieben, Mrs. Pepperall! Sie sind mir auch dafür verantwortlich, daß keines der anderen Mädchen sie auslacht. Montague wird dasselbe mit den Männern besprechen.«
»Ich habe gedacht, ich höre nicht richtig!« empörte sich Mrs. Pepperall einige Zeit später bei Montague. »Es ist doch absurd, daß dieses kleine Weib weiterhin hierbleibt!«
Montague schwieg klugerweise, denn er hatte deutlich gespürt, daß der Earl of Ravensworth außer sich vor Zorn war, und befürchtete sehr, daß möglicherweise einer seiner Untergebenen der Schuldige sein könnte. Als er mit den Männern sprach, gab es einige freche Kommentare, doch Montague ermahnte die Männer eindringlich und gab die Anweisungen des Earl of Ravensworth weiter.
Burke wollte gerade nach oben gehen, um nach Arielle zu sehen, als Doktor Brody von Montague in die Halle geführt wurde. Mark Brody war ein schlanker, jüngerer Mann, mit blasser Gesichtsfarbe und durchdringend blickenden, blauen Augen. Er war nur wenige Jahre älter als Burke und lebte mit seiner Mutter seit ungefähr drei Jahren
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