Liebe stand nicht auf dem Plan
Sound steht. Mehmet tropft der Schweiß von der Stirn, seine Augen glänzen. Er kann es nicht erwarten, dass der Saal voll wird.
Gebückt, die Hände gegen die Knie gestützt, ringt Nora nach Luft, und Keath lässt sich mit dem Rücken an der Säule zu Boden rutschen. Sie sehen sich an. Auf dem Grund ihrer Blicke liegt ein Ernst, den Nora nicht kennt. Trotzdem ist er ihr nicht fremd und sie weicht ihm auch nicht aus.
Bis Dali sich dazwischenstellt und Keath die Hand hinhält.
»Lassen wir sie rein. Die randalieren draußen schon.«
Mit Bedauern lässt sich Keath hochziehen. So wahnsinnig gern hätte er erfahren, was hinter dem Ernst steckt, der so unter die Haut geht, dass es ihn schmerzt. Ein letzter Blick, ihre Augen kann er nicht sehen, aber sie lächelt. Er dreht den Kopf zur Bühne. Nein, sie lächelt vor sich hin, nicht Mehmet an.
Zehn vor acht beginnen sie mit dem Einlass. Im Hinterhof drängen sich bereits die Leute. Das Konzert wird nicht vor neun beginnen.
Für Nora ist es an der Zeit, ihren Geschäften nachzugehen. Sie ist aufgedreht, kommt sich größer vor, aufrechter, und fühlt sich richtig gut.
»Von der Leiche zur Rose in zwanzig Minuten«, spottet Maika, als sich Nora einen Saft holt. »Headbangen scheint ’n kosmetischer Trick für die Durchblutung der Gesichtshaut zu sein. Auch wenn’s bescheuert aussieht.«
»Hä?« Nora hat keine Lust, Maikas Lästermaul Aufmerksamkeit zu schenken. Sie verzieht sich und vertickt in kürzester Zeit unauffällig ihre mitgebrachten CDs. Mehmet kriegt nichts davon mit.
Unter den Vorwänden »Ich hol dir ’n Stempel« und »«Was willst du trinken?« lässt Keath Dali draußen allein. Er ist aufgekratzt und muss Nora noch einmal aus der Nähe sehen. Doch sie ist immer von irgendwelchen Kerlen umringt, die er nicht kennt. Also wühlt er sich zu ihr durch und stellt fest, dass es bei dem lebhaften Palaver um Geschäftliches geht. Erleichtert bestellt auch er Noras Compilation von Ugly & Brilliant, obwohl er sie gar nicht haben will.
Plötzlich drängeln und schieben ihn die Leute Richtung Bühne.
Dreimal schlägt der Drummer auf das Tom-Tom ein und brüllt mit spanischem Akzent: »Jetzt geht’s los! Wir sind hier! Fritten und Bier! FC Sankt Pauli!« Mit einem sehr lang gezogenen i.
Dieser Impuls reicht vollkommen aus, um Nora und viele andere aus dem Club-Publikum mit einem lautstarken Stadiongesang zur Melodie von »Rivers of Babylon« von Boney M zurückgrölen zu lassen: »Nanananananana, o Sankt Pauli, oh Sankt Pauli …!«
Keath kann Nora heraushören und dreht sich nach ihr um. Ihre Augen funkeln ihn an, und er muss daran denken, wie sie ihm seine Perlenkrone aus Regentropfen auf dem Kopf gezeigt hat. Dann fällt sein Blick auf die Eingangstür. Erst geht sie auf, und er denkt, jemand kommt herein, aber dann wird sie von außen wieder zugezogen.
Von der ersten Sekunde an ist das Publikum Wachs in den Händen von Ugly & Brilliant. Der Stimmungspegel schnellt in die Höhe. Keath reißt sich ungern los, aber er muss raus zu Dali. Üblicherweise pflegen die Leute richtig gegen einen anzudrücken, wenn es im Club losgeht und sie noch keine Karte haben.
Schon kurz vor der Tür hört er einen Schrei. Der kommt nicht von Carlos, dem Frontmann der Band, sondern von Dali.
Er brüllt: »Keath!«
Keath stemmt die Tür auf und quetscht sich nach draußen. Da steht nichts und niemand mehr fest auf den Füßen. Die Menge kocht, eine Schlägerei ist in vollem Gang. Fäuste fliegen, und es streift ihn ein hasserfüllter Blick aus zusammengekniffenen Augen. So ist es immer. Dazu gellt der Schrei eines Mädchens: »Pass auf!«
Er duckt sich weg. Atmet tief ein und denkt: Den Kampf tanz ich. Steine knirschen, Schuhe rutschen, Jacken reißen, unterdrückte
Schreie, abgehackte Sätze ohne Sinn. Straßensound, so klingen Schlägereien, seitdem er denken kann. Keath spitzt die Ohren, kann aber kein Hundegebell hören. Er haut um sich, tritt nach allen Seiten und versucht sich einen Überblick zu verschaffen. Wo ist Dali? Wer hat das nervtötende Chaos angefangen?
Mitten im Pulk taucht Dali auf und wieder ab. Keath rudert mit den Armen und kämpft sich zu ihm durch; schiebt, drückt alles weg, was sich ihm in den Weg stellt, und hält die Schläger auf Abstand. Dali hat die gleiche Taktik, aber nicht so lange Arme. Deshalb haut er mit der Eintrittskasse um sich, dreht sich um die eigne Achse. Das wirkt, dazu taugt Leifs blöde grüne Blechkassette hervorragend.
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