Liebe stand nicht auf dem Plan
auf den steinernen Tischtennisplatten und versuchen, spärliche Sonnenstrahlen einzufangen. Nora winkt ihnen zu und geht in das zweigeschossige Haus. Als sie neu im Stadtteil war und ihre Eltern erst spät von der Arbeit gekommen sind, war hier ihr zweites Zuhause.
»Nich da reingehen«, flüstert ein Junge, so um sechs Jahre, als sie auf den Übungsraum zu geht. Er lugt aus dem Türspalt des gegenüberliegenden Gruppenraums, in dem Nora immer ihre Hausaufgaben gemacht hat.
»Wieso?«
»Der wird echt brutal, wenn man ihn stört«, kräht er und haut die Tür zu, als sei unmittelbare Gefahr im Verzug.
Das heißt, Keath ist allein da drin, denkt Nora. Was tun? Aus dem Proberaum dringt laute Musik, die sie sehr gut kennt. Ich bin hier, jetzt geh ich auch rein, beschließt sie, fasst an die Klinke und traut sich nicht.
»Tu’s nicht«, wispert der Kleine, von dem nur Nase und Mund durch den Türspalt zu sehen sind. »Der jagt dich raus.«
Nora hält den Finger vor den Mund, und er verzieht sich wieder. Vorsichtig öffnet sie die Tür einen Spalt, schlüpft hinein und zieht sie wieder zu.
Zum ersten Mal sieht sie Keath Solotanzen. Er tanzt vollkommen anders als sonst. Wie ein Kampf sieht es aus, unglaublich schnell, dann hält er inne, fällt, fängt sich, strauchelt wieder, richtet sich auf und steigert das Tempo. Ihr Herz fängt an zu hämmern. Er ist so gut! Keath sieht sie nicht, er tanzt auf einer Linie, der Fensterfront zugewandt. Nora begreift, dass er an einer kompletten Choreografie probt. Die Musik hat sie vor ein paar Monaten aus Mehmets ersten Mischungen zusammengestellt. Er hat eine Phrase von Nora darübergelegt, I’m not small, der Refrain eins ihrer superpeinlichen Lieder. Aber Mehmet hat das Lied so hineinverwoben, dass sie ihre Stimme gerade noch erträgt. Keath ist schön, denkt sie. In dem Moment wirbelt er herum, sieht sie und kommt aus dem Takt. Er ist außer Atem, hebt die rechte Hand und deutet einen Gruß an.
Nora zieht entschuldigend die Schultern hoch. »Lass dich nicht stören.«
»Was?«
»Ich will nicht stören«, sagt sie lauter.
»Ich wollte eh aufhören«, sagte er und fährt mit dem Arm über die Stirn. »Wie spät?«
Die schwarze Stoffhose klebt an seinen Beinen. Er ist barfuß.
»Vier.«
Keath stellt die Musik leiser. »Gut, dass du mich hier rausholst.« Er grinst verschmitzt und wedelt Luft unter sein nasses schwarzes T-Shirt. »Fast hätte ich noch das Putzen verschwitzt.«
Nora weiß nicht, wo sie hingucken soll, steht da und starrt ihn an.
Er zieht seine Kapuzenjacke über. »Schönes Lied. Hast du noch mehr?«
»Äh. Ja.«
Er lehnt sich gegen die Fensterbank, zieht Socken über die Füße und bindet sich die Turnschuhe zu. Die sind so groß, dass sie darin über die Elbe rudern könnte.
»Kann ich die mal hören?«
»Nein.«
Keath lacht leise und sieht sie an. »Du hast mir beim Tanzen zugekuckt.«
»Unglaublich. Du tanzt einfach unglaublich.«
»Zu deinem Lied. Ich würde gern noch mehr hören.« Er nimmt die CD raus, steckt sie in die Papphülle, versenkt sie in seiner Jackentasche und klopft mit der flachen Hand darauf. Grinsend, als wolle er sagen – das ist meine. Dann nimmt er sein Handy: »Du hast mich angerufen?«
Er hat meine Nummer eingespeichert, denkt Nora. »Äh, übernächsten Dienstag gibt’s den ersten Underage-Club. Im Club.«
Die Sporttasche, deren Riemen er sich gerade mit Schwung über die Schulter geworfen hat, klatscht ihm gegen die Hüfte. »In unserem Club?« Er starrt sie ungläubig an.
Sie nickt.
»Du hast Leif rumgekriegt?«
»Vorhin. Ich hab die Lokusse geschrubbt dafür. Und sein Büro.«
»Und wer ist Veranstalter? Du oder er?«
Sie deutet mit dem Daumen auf ihre grüne Banane.
Keath breitet die Arme aus, und Nora stürmt los. Sie ist leicht, lacht und riecht gut. Er wirbelt sie herum, bis beide außer Atem sind.
»Hast du’s mal wieder geschafft.«
»Bloß wenn’s gut läuft. Sonst ist es auch gleich das letzte Mal.« Nora löst sich benommen aus der Umarmung und fragt schnell: »Wie oft übst du?«
Keath hat das Gefühl, ein paar Arme zu viel zu haben. »So oft es geht. Kennst du den Film Rize von David LaChapelle?«
Nora schüttelt den Kopf.
»Den muss ich dir zeigen. Das ist meine Inspirationsquelle.« Er lächelt wieder. »Das heißt natürlich nur, wenn eine Chance besteht, irgendwann noch mal ein Lied von dir zu hören.«
»Das ist gemein!«, protestiert hinter ihnen der Kleine. »Ich darf nie
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