Liebe stand nicht auf dem Plan
kommt mit Wucht zurück. Mit Nachbarn vor der Tür einen Schwatz halten, das kann sie, aber Bescheid sagen, wenn sie nicht …
»Ich werde dafür sorgen, dass ihr rausfliegt!« Hasserfüllt brüllt die Männerstimme von oben herab.
Nora geht die Luft aus, ihr Puls rast. Wie oft hat man ihr das gesagt. Kinder, Erwachsene, Beamte in Behörden. Manchmal ist es unmöglich, weiterzuatmen, wenn einem Kälte und Hass entgegenschlagen. Man kann unmöglich weghören, wenn die Botschaft ist: Schafft euch ab! Haut ab! Löst euch in Luft auf! Verreckt! Ihr seid mir im Weg!
»Ich mach das weg …«
»Macht euch selber weg! Elendes Gesocks!«
Der da spricht es aus. Nora hastet die letzten Stufen hoch in den vierten Stock.
Ein zerbrochener Blumentopf, Erde und ein Usambaraveilchen liegen auf dem Boden. Als sie sieht, wie blass Maika ist, vergisst sie ihre Wut und nimmt die Pflanze vom Boden. »Wird sofort eingetopft«, sagt sie in das wutverzerrte Gesicht des Mannes.
»Es geht nicht um die Scheißpflanze!« Er haut ihr seinen alkoholangereicherten Atem ins Gesicht.
Nora geht einen Schritt auf ihn zu, sieht ihm in die Augen und sagt: »Wir machen auch den Rest weg.«
»Ha«, sagt er verächtlich. »Das will ich sehen.«
Mund halten und ihn ganz ruhig anstarren, verordnet sich Nora.
Das tut sie, bis er mit den Achseln zuckt. »Ich komm wieder.« Er wirft noch einen Blick auf die angelehnte Tür von Maikas Wohnung und geht die Treppe hinunter.
Maikas Schultern zucken. »Ich konnte nicht weg«, schluchzt sie.
»Schon gut. Komm.«
Die Tür ist blockiert. Nora drückt sie vorsichtig auf und schlüpft durch. Der Schock lässt sie zurücktaumeln, bis sie mit dem Rucksack an die Wand stößt. Eine Frau liegt mit dem Gesicht nach unten in einer riesigen Blutlache.
»Meine Mutter. Sie ist …«, sagt Maika.
Nora hört sie wie aus weiter Ferne. »Was … was ist passiert?«, stammelt sie. Eine Welle von Übelkeit drückt ihr die Kehle zu. Das Usambaraveilchen fällt ein zweites Mal zu Boden.
»Geh zur Seite. Ich komm nicht rein«, sagt Maika.
Nora tut es. Kalter Schweiß steht ihr auf der Stirn, sie kann den Blick nicht abwenden. Es stinkt nach Alkohol und Urin. Fassungslos hält sie sich an Maikas Arm fest. Ihre Hand zittert. »Ist sie … tot?«
»Tot?« Maika zieht die Tür hinter sich zu. »Nein, sie ist betrunken«, und nach einer Pause sagt sie leiser, »total besoffen«.
»Aber das Blut …« Jetzt erst fällt Nora der zerquetschte Tetra-Pack-Karton unter der Hüfte von Maikas Mutter auf. »Ist das Rotwein? «
Maika nickt, und Nora stöhnt vor Erleichterung auf. Sie lässt den Rucksack von ihrer Schulter rutschen. »Hast du ein großes Handtuch?«
Während Nora das Usambaraveilchen auf den Küchentisch legt, holt Maika ein Badetuch. Sie wälzen Maikas Mutter darauf
und ziehen sie ins Badezimmer. Das Waschen übernimmt Maika. Nora wischt den Flur. Unter vielen leeren Flaschen findet sie auf dem Balkon einen Blumentopf und setzt das Pflänzchen wieder in die Erde, die sie aufgefegt hat. Gießen, aus dem Küchenschrank einen Untersetzer holen, über den Treppenhausboden feudeln, und der Blumenschmuck auf der Fensterbank verziert wieder ganz allein auf weiter Flur das trostlose Ambiente.
Zu zweit schleppen sie Anja ins Bett. Maika hat ihr ein langes Hemd angezogen und reißt das Schlafzimmerfenster auf. Mao, der Kater, hat sich unterm Wohnzimmerschrank verkrochen. Erst als Maika mit der Packung Katzenfutter raschelt und seinen Napf füllt, kommt er hervor.
Nora macht das Küchenfenster weit auf. »Seit wann geht das so?«
»Seit zwölf Jahren. Mal ist es besser, dann eskaliert’s wieder, wie jetzt.«
Das geht gar nicht, denkt Nora. Das kann kein Mensch aushalten. »Hast du jemand, der dir hilft?«
Maika dreht sich weg und streichelt Mao. Er schnurrt und springt auf ihren Schoß. Sie hält den Kopf gesenkt. Ihre Tränen tropfen auf sein Fell. »Sie säuft sich zu Tode. Ich kann nichts dagegen tun.«
Ihr Flüstern ist kaum zu verstehen. Gedanken überschlagen sich in Noras Kopf. Verzweifelt sucht sie nach einem Trost. Es ist absolut nicht hinnehmbar, dass es keine Lösung geben soll. »Was ist mit Entzug?«
»Morgen hör ich auf«, wiederholt Maika die Beschwörungsformel ihrer Mutter. Aus ihrem Mund klingt es völlig bedeutungslos. Mao springt von ihrem Schoß und maunzt. Es klingt verzweifelt.
Nora schluckt trocken, springt auf und füllt zwei Gläser mit Leitungswasser. »Wenn das schon seit zwölf Jahren
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