Liebe Unbekannte (German Edition)
er müsse sich an Patai rächen. Es reicht ein Missverständnis und das war’s.“
„Er will sich überhaupt nicht rächen.“
„Das kannst du nicht wissen“, erwiderte Onkel Lajos. „Du kannst nicht wissen, und ich erst recht nicht, was die Jugend von heute umtreibt, schon aufgrund unseres Alters können wir es nicht wissen. Habe ich recht, Tamás?“
„Na ja“, antwortete ich unsicher, weil ich das Gefühl hatte, ihn mit einem „Ja“ zu kränken, ihn als alt zu bezeichnen.
„Ich will ein polterndes ‚Ja‘ hören!“
„Ja. Nein“, sagte ich grinsend und zuckte mit den Schultern. Beide verstanden, dass ich Onkel Lajos’ Gedankengang auf meine Weise beipflichtete (ohne ihn für alt zu erklären).
„Aber rächen willst du dich doch nicht“, wandte sich Vater an mich, und ich stellte mich unbedacht auf seine Seite.
„Kommt mir nicht in den Sinn“, sagte ich sofort, womit ich sie ein bisschen verdrießlich stimmte, weil beide den Gedanken im Hinterkopf hatten, dass ich, ein achtzehn Jahre alter Krizsán, zudem der letzte Mann in der Familie, mich doch eigentlich für sie einsetzen und mir über Rachepläne den Kopf zerbrechen hätte müssen, wobei es dann ihre Aufgabe gewesen wäre, ihre gesamte Autorität spielen zu lassen, um mich von diesem unsäglichen Schwachsinn abzubringen.
„Dann ist ja gut“, sagte Onkel Lajos.
„Es fehlte noch, dass du dem Jungen einen Floh ins Ohr setzt“, sagte Vater. Das war ein vorsichtiger Versuch, mich in ein etwas besseres Licht zu rücken, eine Andeutung, ich sei durchaus so waghalsig, dass man mir den Floh der Rache ins Ohr setzen könne.
Er war also von meiner Antwort mehr enttäuscht als Onkel Lajos. Hier waren die Mängel meiner Erziehung für einen Augenblick zum Vorschein gekommen. Mir selbst war es ja auch peinlich, dass ich nicht Rache üben wollte. Aber nun war es einmal ausgesprochen. Meine unüberlegte Antwort beleuchtete den schweren Zwiespalt zwischen ihnen: Sie, als gute Geschwister, hätten die Welt beide so sehen müssen wie Onkel Lajos sie sah. Vater sah sie jedoch anders. Und das hatte welthistorische Gründe.
Allein schon die fünfzehn Jahre, die Onkel Lajos älter war als Vater, führten zu Differenzen. Onkel Lajos war zweimal in seinem Leben besiegt worden: zuerst im Zweiten Weltkrieg, als Soldat eines mit dem Dritten Reich verbündeten Staates, weshalb er eine Art Großmachtsverantwortungsgefühl gegenüber den Ereignissen der Welt verspürte. Im Gegensatz dazu wurde Vater im Aufstand von ’56 bereits von einer vollkommen unverhältnismäßigen Übermacht besiegt, was ihn später praktisch von jeglicher Pflicht einer politischen Stellungnahme enthob. Onkel Lajos hielt die Revolution für einen riesigen Schwachsinn, was ihn jedoch nicht daran hinderte, an ihr teilzunehmen (mit über vierzig Jahren und obwohl er bereits im Gefängnis gewesen war), und es kam einem Wunder gleich, dass er nach dem Aufstand nicht zur Rechenschaft gezogen wurde: Wahrscheinlich waren alle gestorben, die ihn mit einem Gewehr in der Hand gesehen hatten. Er selbst war am meisten überrascht, dass niemand kam, um ihn abzuholen. Auf jeden Fall war seine bewaffnete Teilnahme an dem Aufstand das Familiengeheimnis Nummer eins, weshalb ich damals auch noch gar nichts davon wusste. Was ich jedoch wusste, weil ich es bereits öfter gehört hatte, war, dass sich Onkel Lajos, im Gegensatz zu Vater, dieser
romantischen Seele
, stets über den Aufstand lustig machte, ihn als infantile Verrücktheit bezeichnete, um sich so auch von seinem eigenen infantil verrückten Verhalten von damals abzugrenzen. Er hatte auch recht, denn der ungarische Freiheitskampf von 1956 war wirklich eine Verrücktheit, obgleich eine der schönsten Verrücktheiten der Weltgeschichte, vergleichbar nur mit der Schlacht bei den Thermopylen.
„Hör zu, ich habe ja den Verdacht, dass ihr ihm den Floh schon längst ins Ohr gesetzt habt“, antwortete Onkel Lajos, und diese wohlwollende Bemerkung sollte signalisieren, dass er den Gedanken, ich sei ein hitzköpfiger, draufgängerischer Kerl, noch nicht ganz verworfen habe.
„Wir haben ihm nichts ins Ohr gesetzt. Judit hat etwas falsch verstanden und du baust darauf gleich eine Theorie auf.“
„Das ist keine Theorie, mein Lieber, sondern eine Feststellung auf Grundlage durchaus empirischer Beobachtungen. Du hast am Telefon etwas gesagt, worauf ich reagiert habe und meine Reaktion war so leicht falsch zu verstehen, dass Judit ihre reale Sorge
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