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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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(IHE) und gleichzeitig der Leiter der Fachbibliothek eben dieses Instituts war, er also dort arbeitete. Und er kam mir nicht nur deshalb entgegen, sondern auch, weil er, seitdem er Witwer war und aufgehört hatte, an der Hochschule zu lehren, praktisch in der Bibliothek wohnte. Manchmal schlief er sogar dort. Ab und zu spazierte er über die Gänge, grinste in die Cafeteria hinein: Mit einem Bleistift hinterm Ohr, an den Füßen Socken und Sandalen, einem braunen Arbeitskittel am mageren Körper und unter diesem – raunte man sich in der Bibliothek voller Entsetzen zu, ich persönlich hörte es von Frau Mirák – befand sich höchstwahrscheinlich gar nichts. Nichts als Patai.
    Das Institut für Herausgabe von Enzyklopädien – das aufgrund einer früheren Ministerialverordnung in das damals noch zukünftige Gebäude der Korvin Bibliothek umgezogen war, natürlich nur vorübergehend – nahm eine ganze Etage der Bibliothek und viele Räume in anderen Etagen für seine eigenen Mitarbeiter in Anspruch. Jetzt, nachdem der Umzug der Bibliothek abgeschlossen war, hätte diese jeden Quadratzentimeter des Gebäudes für eigene Zwecke benötigt, das IHE war jedoch offenbar nicht wegzubekommen, wenn auch natürlich nur vorübergehend. In der Bibliothek sprach man von zwei Arten der IHEForscher: Es gab Typ A und Typ B. Beide waren außerordentlich schädlich. Typ A wurde jahrelang gar nicht in der Bibliothek gesehen, die Tür seines Büros war stets verschlossen, und Typ B verließ sein Büro so gut wie nie. Keiner der beiden Typen war mit bloßem Auge sichtbar. Ihre Aufgabe wäre die Redaktion der Ungarischen Großenzyklopädie gewesen, sie befassten sich jedoch stattdessen mit ihren eigenen wissenschaftlichen Publikationen und die Korvin Bibliothek betrachteten sie offenbar als ihre persönliche Fachbibliothek: Sowohl die Forscher vom Typ A als auch die vom Typ B horteten in ihren Büros Tausende der kostbarsten Bibliotheksbücher. Jeder in der Bibliothek hasste die IHE-Leute: Würden sie wenigstens endlich einen – mehr verlangte man ja gar nicht – neuen Band der geplant sechzigbändigen Reihe der Ungarischen Großenzyklopädie herausbringen. Seit dem zehn Jahre zuvor erschienenen Band GUT–HIZ hatte man nichts mehr von ihnen gesehen. So grämte sich die Bibliothek, mir gegenüber konkret Frau Mirák.
    Und Patai lief und lief mit seinen langen Beinen ständig durch die Bibliothek und grinste dabei geheimnisvoll. So kam er auch mir entgegen, sah jedoch durch mich hindurch; er hatte mich wirklich nicht erkannt, wieso hätte er das auch sollen. Trotzdem versuchte ich mich, allein schon seinetwegen, so selten wie möglich zu zeigen.
    Ich verfügte aber zumindest über reichlich Zeit, die ich auch nutzte. Und nicht für irgendetwas, nein, dazu, den
übermenschlichen Menschen
aus mir herauszuholen. In diesem Bestreben wurde ich nur selten von jemandem gestört. Dabei war ich nicht der einzige Herumlungerer in den Lagerräumen der Korvin Bibliothek. Da war zum Beispiel Lővi.
    Lővi bot mir eines Tages mit einem undeutbaren Lächeln etwas von seinem Frühstück an.
    „Extrawurst“, sagte er geheimnisvoll.
    „Ich habe schon Extrawurst zum Frühstück gegessen, aber trotzdem danke.“
    „Ich habe noch nichts gefragt“, sagte er lächelnd. „Ich habe dir nichts angeboten ...“
    Sein Lächeln war rücksichtsvoll: Er überließ es mir, die Schlussfolgerungen aus meiner übereilten Antwort selbst zu ziehen. Was ich nicht tat. Und er stellte mir keine weiteren Fragen. Er ließ mich stehen. Aber er beobachtete mich auch später noch. Von Weitem. Stets mit einem milden, etwas spöttischem Lächeln. Ich dachte, er sei einfach ein Verrückter. Viel später wurde mir bewusst, dass ich nie in meinem Leben näher an einer staatsfeindlichen Organisation war, als während dieses kurzen, für mich unverständlichen Gesprächs. Er hatte mich überprüft. Und zu meinem Glück als zu leicht befunden. Lővis Namen las ich Jahre später auf einer kopierten und illegal verbreiteten Petition, die von bekannten Intellektuellen der Opposition in drei Spalten unterschrieben worden war. Es wurde das Einstellen des Verfahrens gegen Lővi gefordert, da seine geistige Verfassung die Strafbarkeit ausschließe. Die Unterzeichner wussten natürlich, dass Lővi seit beinah zwanzig Jahren nur so tat, als sei er verrückt, um von der Staatssicherheit nicht behelligt zu werden, aber für die gute Sache gaben sie vor, ihn tatsächlich für verrückt zu

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