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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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Mädchen mit der Lederjacke hinterherlief, herausbekam, dass sie im Zeitschriftenarchiv arbeitete und mich einige Tage später dorthin wagte, um John Torringtons Leichentuch zu erblicken.
    Auf dem Leichentuch John Torringtons, des leitenden Schiffsheizers der
Terror
, stand Folgendes:
    Hier ruht
John Torrington
Heizer des Schoners Terror
Leser, störe seinen Frieden nicht, wenn dir deiner lieb ist
.
    Das Leichentuch war in eine ausländische naturwissenschaftliche Zeitschrift geklebt worden. Eine sorgsame Hand hatte es aus Schreibmaschinenpapier ausgeschnitten und mit Klebeband auf das Glanzpapier geklebt, um die in einem offenen Sarg liegende Leiche mit dem grauenvollen Gesicht zu verdecken. Der Leser musste den Zettel hochklappen, hatte also genügend Zeit, um zu überlegen, ob er das Bild wirklich sehen wollte. Die sorgsame Hand hätte natürlich auch die ganze Seite samt Leiche aus der Zeitschrift herausreißen können, aber sie war ja gerade deshalb eine sorgsame Hand, weil sie das nicht getan, sondern dem Toten lieber ein Leichentuch aus Schreibmaschinenpapier ausgeschnitten hatte.
    Gábor Kender war fasziniert von dem Leichentuch. Allein schon die Idee. So sorgsam, ein derart furchtbares Bild abzukleben, habe nur eine Frau sein können. Statt die ganze Seite herauszureißen. Er zum Beispiel hätte die Seite ohne zu zögern herausgerissen, wenn er in der Laune gewesen wäre, die Leser mit dem Anblick einer Leiche zu verschonen. Zugegeben, er sei selten in schonender Laune. Ganz im Gegenteil: Er sehe andere gerne ins Entsetzen geraten. Er sei einer von der Sorte, die, wenn ihm schon einmal das Glück zuteil geworden sei, über einen exhumierten Leichnam zu verfügen, so viele anständige Menschen ins nackte Entsetzen jage, wie er nur könne. Selbst, wenn es sich bei der Leiche nur um ein Foto in einer Zeitschrift handle.
    Gábor wollte Filmregisseur werden. Zumindest wollte er das damals unbedingt. Im Frühjahr bewarb er sich an der Filmhochschule, um dann gleich in der ersten Runde durchzufallen, was ihn jedoch überhaupt nicht störte, da er sich noch nicht reif für diesen Beruf fühlte. Eigentlich wollte er lieber Mathematiker werden, aber sein Freund, Kornél Hajnal, hatte ihn überzeugt, dass das eine das andere nicht ausschließe, Film sei ein wichtiger Bereich, und er habe noch genug Zeit für Aufnahmeprüfungen. Ihm stehe zum Beispiel das gesamte kommende Jahrzehnt zur Verfügung. Was jedoch nicht mit der Zukunft zu verwechseln sei, denn eine Zukunft gebe es nicht. Kornél wusste stets, was er redete, aber Gábor wartete trotzdem nicht tatenlos auf den großen Tag, an dem er explosionsartig zum Filmregisseur wurde. Ganz im Gegenteil.
    Er hatte große Pläne, an denen er mit Ausdauer arbeitete, und nur einer davon war, seine Seele dem Teufel zu verkaufen. Zugegeben, im Augenblick war dies der wichtigste. Damit würde er nämlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Neben dem Teufel würde er spielend die dunkle Seite des Lebens kennenlernen, was für einen Regisseur unerlässlich war, außerdem lernt man vom Teufel, wird informiert, bekommt konkrete Ratschläge in Lebensführung und, wenn nötig, sogar Talent. Dieser Plan war bereits auf dem besten Weg zur Durchführung, denn Gábor hatte in der Bibliothek gleich einen Teufel gefunden: Patai höchstpersönlich. Der Rest, sich also dem Teufel aufzudrängen, war nur noch eine Frage des Fleißes und der Ausdauer. Nach eigenen Einschätzungen war Gábor auf dem besten Weg, unentbehrlich zu werden, was Patai mit einem nachsichtigen Lächeln beobachtete und förderte.
    „Hören Sie zu, Gábor, Sie präpotenter Kerl. Wenn Sie nur ein bisschen Kräftigung für die Seele benötigen, schlurfen Sie zurück ins Zeitschriftenarchiv und suchen Sie gemeinsam mit der Dame aus einer der
Näschönöl dschio-o-ogröfik
(unnachahmbarer Tonfall) Ausgaben des letzten Jahres die Fotografie von
Dschahn Ta-a-arintün
(unnachahmbarer Tonfall) heraus. Und wenn Sie auch danach noch an die Auferstehung des Leibes glauben, können Sie sich ruhig begraben. Oder wissen Sie was? Dann gebe ich Ihnen eine Empfehlung für das Pathologische Institut in der Üllői Straße. Dort wird man sich um Sie kümmern. Vorausgesetzt, Sie reißen nicht nur den Rachen auf.“
    Gábor war zum echten
Schwergewichtsatheisten
erzogen worden (seine Eltern waren Polizisten in einer Stadt in der südlichen Tiefebene, deren Name er ungeschickt zu verheimlichen versuchte) und allein schon die Annahme, er

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