Liebe Unbekannte (German Edition)
halten. Das war nicht schwer, weil sie ebenfalls wussten, dass Lővi bereits seit einer Weile wirklich verrückt war, da er seine Rolle so lange gespielt hatte, bis er nun darin
hängen geblieben war
– und diese doppelte Notlüge mussten sie erst viel später ausbaden: Als das Land frei wurde, und die politische Laufbahn des verrückten Lővi begann.
Es gab noch andere, ähnliche Dinge, die mir widerfuhren. Ich würde nicht behaupten, niemanden in der Bibliothek gekannt zu haben, einige gab es schon. Wobei ich es fertig brachte, den wenigen, die mich zum Beispiel beim Mittagessen ansprachen, danach so sorgsam aus dem Weg zu gehen, dass bald auch sie durch mich hindurchblickten. Sie waren eben nicht beharrlich genug, dachte ich hochmütig und verzweifelt.
Ich wusste, dass das nicht lange so weitergehen konnte und hegte Selbstmordgedanken, wobei ich das Ausmaß meines Leidens zugegebenermaßen ein wenig übertreibe. Auf jeden Fall hatte ich ausreichend Zeit, um den
übermenschlichen Menschen
aus mir hervorzulocken. Darunter muss man sich nichts Weltbewegendes vorstellen, ich habe natürlich Gedichte geschrieben. Zum Beispiel folgendes, das gerade den Titel
Übermenschlicher Mensch
trug:
Ich lebe seit fünfzehn- oder zwanzigtausend Jahren
Doch dieser Nebel ist noch älter als ich
Die Krieger wissen es nicht
Nur ich bin mir gewiss:
Überm Nebel liegen kalte Kisten
Und in den Kisten liegen kalte Körper
Raumfahrer und Raumfahrerinnen
Kreisen seit fünfundzwanzig-
,
seit dreißigtausend Jahren
Die Frauen haben schwarzgeschminkte Lippen
In die Atmosphäre gelangt
,
verbrennen sie dann und wann
Nur ich weiß von ihnen, mein Volk nicht
Und mein Volk will nichts als essen
,
immer nur essen
Ich zaubere Fleisch, das die Lanzen zerbricht
.
Vielleicht warf ich in dem Gedicht deshalb mit mehreren Zehntausend Jahren um mich, weil ich im wirklichen Leben nicht einmal von den wenigen Rechenschaft geben konnte, die mein Privateigentum bildeten. Damals hätte ich zwar noch sagen können, wie viele Jahre meines Lebens in der Bibliothek vergangen waren, aber im Nachhinein habe ich nur eine sehr verschwommene Erinnerung daran. (Waren es anderthalb gewesen? Oder drei? Oder vier?) Von heute aus betrachtet, verstehe ich vor allem nicht, wie ich einer so bösen, alten, mit allen Wassern gewaschenen Erscheinung wie der Zeit überhaupt hatte vertrauen können.
Meinen Schwur konnte ich indes nicht vergessen. Er arbeitete still, heimtückisch in mir, nagte an meinem Selbstwertgefühl. Dabei hätte ich es ja genauso gut als etwas Heldenhaftes empfinden können, einen Schwur gebrochen zu haben. Tief in mir wusste ich allerdings, dass ich ihn nicht gebrochen hatte: Selbst dazu fehlte mir der Mut.
Eines Tages hörte ich gegen die Mittagszeit ein lautes, heiseres Weinen vom Eingang des Lagerraums heraus dringen. Es war wie das Weinen eines Kleinkindes und doch eine eindeutig weibliche Stimme. Anfangs schlich ich nicht in ihre Nähe, weil ich finstere Gestalten, die weinenden Frauen auflauerten, abstoßend fand. Nachdem ich sie einige Tage belauscht hatte, musste ich mir dann aber doch ansehen, wer es war, die jeden Tag kurz vor dreizehn Uhr durch die Lagerraumtür hereingeschlichen kam, sich auf den Boden setzte und in hastiges Schluchzen ausbrach. Unmittelbar neben der Tür, weil sie sich wegen der Dunkelheit nicht weiter ins Innere des Lagerraumes traute. Als Schalldämpfer verwendete sie die gebundene Ausgabe eines Jahrgangs des Fachblatts des Ingenieursverbands: Sie öffnete es vorm Gesicht und weinte hinein. Den Kopf bedeckte sie mit ihrer Lederjacke. So baute sie sich ein Miniaturtonstudio zum Weinen.
Ich stand in der Nähe und beobachtete sie. Im ersten Augenblick dachte ich, es sei vielleicht Emma Olbach, weil ich das von jedem hübschen Mädchen in der Bibliothek dachte. Schließlich hatte ich von ihr zuletzt ein Kindheitsfoto gesehen, das auf dem Fernseher der Olbachs gestanden hatte, und das war schon viele Jahre her. Ich wusste nicht, wie ihr erwachsenes Gesicht aussah. Ich wusste natürlich, dass eine Frau, nur weil ihr Großvater einst der Leiter einer Bibliothek gewesen war, als Erwachsene nicht unbedingt in einer Bibliothek arbeiten würde. Im Grunde war ich mir ganz sicher, dass es nicht Emma Olbach sein konnte (und wenn doch, was hätte mir das genützt?). Allerdings reichten dieses herzzerreißende Weinen, die vertanen Jahre, meine Sünden und Gerdas sanfte Ermahnung aus, damit ich mir einen Ruck gab, dem
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