Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
Vom Netzwerk:
auch alles, um es zu etwas zu bringen: Ich arbeitete seit Jahren in der
Abteilung für Zuwachs
der Korvin Bibliothek als
Bestandsreduzierer
. Ich hatte Glück gehabt, denn ich hatte in den bewegten Jahren angefangen, in der Bibliothek zu arbeiten, als sie endgültig in die Burg zog. Der Umzug dauerte schon Jahrzehnte, in diesen Jahren hatte er jedoch unerwartet Schwung bekommen. Ich verbrachte diese Jahre eigentlich gar nicht in der Burg, sondern mit der Auflösung diverser Bücherlager in der Stadt. Ich saß also in fensterlosen Lagerräumen und sortierte nach speziellen
Reduktionsaspekten
(die gemäß den die Grundlage der
Bestandsgestaltungsstrategien
bildenden Gesichtspunkten und Methoden der
Bestandsanalyse
ausgearbeitet worden waren) Bücher, räumte sie in Kisten und fuhr mit, als sie in die Lagerbibliothek der Depotstadt nach Bokros transportiert wurden.
    Ich hätte in dieser Zeit viele lehrreiche und lustige Abenteuer erleben können, wozu es jedoch nicht kam. Dafür machte ich den Fahrer verantwortlich. Denn er erlebte auch nichts. Er wohnte, genauso wie ich, bei seinen Eltern. Er war allergisch gegen Bücher. Er hatte rote Flecken im Gesicht, die er hinter einem Bart verbarg. Er wollte Langstreckenschwimmer werden, war jedoch schon über vierzig. Er wollte suggestiv, brennend in die Welt blicken, seine Augen waren jedoch so wässrig, dass ihm das nicht wirklich gelang. Ich versuchte, ihn mir als Schwimmer vorzustellen, sah jedoch nur diesen Blick körperlos aus dem Wasser starren. Er presste stets die Zähne zusammen und hatte keine Freundin. Er las Science-Fiction-Romane. Zum Bibliotheksball anlässlich des Nikolausfests brachte er jedes Jahr einen
Gebackenen Engel
mit. Dieser wurde von ihm selbst gebacken. Es aß jedoch kaum einer davon. Es ging das Gerücht um, er sammle das ganze Jahr über die Schuppen von seinem Kopf, um dann den Kuchen daraus zu backen. Ich aber hatte im Jahr zuvor den
Gebackenen Engel
gekostet (er war ungenießbar), ja, hatte mir sogar noch ein Stück geben lassen, das ich heimlich wegpackte und im geeigneten Moment in den Müll warf. Mehr konnte ich nicht für ihn tun. Ich war wütend auf ihn, weil ich dachte, in ihm meine eigene Zukunft zu sehen. Ich hoffte, er bemerkte es nicht, denn ich wollte ihm sein Schicksal nicht noch zusätzlich erschweren.
    Im Juni dieses Jahres wurde der Umzug der Bibliothek beendet, und nun kam auch ich in das Gebäude in der Burg. Es folgte eine in beruflicher Hinsicht ruhigere Zeit. Von da an bestand meine Aufgabe nur noch in der
planmäßigen Bestandsreduktion
: Ich hatte die Mehrfachexemplare und die nicht unter Archivierungspflicht fallenden Bücher auszusortieren. In der Praxis sah das so aus, dass ich in der hinteren Ecke eines halbdunklen Lagerraumes beim Licht einer Leselampe die Sportzeitschrift und die wichtigsten belletristischen Werke der Weltliteratur las.
    Während meiner Laufbahn in der Bibliothek versäumte ich alle Gelegenheiten, mit großartigen und wunderbaren Menschen Bekanntschaft zu schließen, was ich heute bereue. Es segneten damals mindestens fünfzehn bedeutende Leser das Zeitliche und (mit etwas Übertreibung) mit ihnen gingen auch die besten Traditionen der Ungarn verloren. Wenn ich mich wenigstens manchmal hätte blicken lassen, hätte manch einer von ihnen mich vielleicht eines Wortes gewürdigt – aber ich ließ mich nie blicken. Ich lief nicht in den Gängen herum, besuchte nie die Cafeteria, so kannte mich auch niemand, (mit etwas Übertreibung) nicht einmal Tante Gizella oder meine unmittelbare Vorgesetzte, Frau Mirák.
    Dabei spürte ich selbst, dass das, was ich in der Bibliothek veranstaltete, nichts anderes als Herumlungern war. Und herumzulungern ist widerlich. Nur einsame Menschen lungern herum. Ich war jedoch kein einsamer Mensch, ich war lediglich allein. Was ein großer Unterschied ist, sagte ich mir immer wieder, und wenn es nicht zwei Personen gegeben hätte, vor denen ich mich fürchtete, wäre ich wohl viel öfter aus dem Lagerraum hervorgekrochen. Es handelte sich um Éva Viola Dévai und Patai.
    Eigentlich hatte es bei beiden einfache Gründe. Éva Viola Dévai war im Sommer Zeugin des niederträchtigsten Vergehens meines Lebens geworden, weshalb ich ihr monatelang nicht hatte in die Augen sehen können, dabei hatte sie mir nur helfen wollen. Und Patai war mir gleich an meinem ersten Arbeitstag in der Burg auf dem Gang entgegengekommen, da er der Leiter des Instituts für Herausgabe von Enzyklopädien

Weitere Kostenlose Bücher