Liebe Unbekannte (German Edition)
unfassbar schwierige Aufgabe gewesen sein, sie zu begraben, denn die Archäologen mussten die Erde vier Tage lang bearbeiten, um die drei Gräber zu heben. Die drei Toten waren Teilnehmer der berühmten Franklin-Expedition, Helden der Jugend von Jules Verne.
Erebus
und
Terror
, die beiden schönen Schiffe der Expedition, lichteten 1845 in London unter Fanfarenklängen die Anker, dem Schein nach, um die Nordwestpassage zu suchen, in Wirklichkeit (dem Willen des Schicksals nach) zu nichts anderem, als an der kanadischen Küste des Arktischen Ozeans für immer zu verschwinden und das 19. Jahrhundert um ein großes Rätsel zu bereichern.
John Torringtons Leiche übertraf Gábors kühnste Erwartungen. Sein Gesicht war verzerrt, er war offenbar unter furchtbaren Qualen gestorben. In dem Artikel war als Todesursache Bleivergiftung angegeben. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er wahrscheinlich schon stark abgenommen, die Gesichtshaut spannte sich über den Schädel, wodurch er jedoch nicht zu einem Totenschädel wurde, es war ein wirkliches Gesicht und zwar eines der grauenvollsten, die Gábor je gesehen hatte. Man hatte ihm nicht die Augen geschlossen. Er sah einen an. Gelbe, aber unversehrte Hände, die man am Körper festgebunden hatte – weshalb? –, der Zeit entsprechende Kleidung. Dunkelblonde, lange Haare, ein länglicher Kopf. Wenn man die Grimasse außer Acht lässt, ist das Gesicht das Interessanteste an ihm. Er wird wohl ein gut aussehender junger Mann um die zwanzig gewesen sein, ungefähr im Alter von Sándor Petőfi, hatte aber doch diesen
typischen, krassen, englischen Rockmusikerschädel, sieh dir das an, diese Kopfform hatte man damals doch noch gar nicht erfunden!
Mit diesen Worten würdigte Tabaki, der kundigste Rock ’n’ Roll-Fachmann der Bibliothek, den Toten.
Er war von Gábor ins Zeitschriftenarchiv geschleppt worden, damit er half, Emőke Széles aufzumuntern. Tabaki hätte gerne geholfen, denn auch ihm tat sie furchtbar leid. Sie tat der gesamten Bibliothek leid, alle wussten, dass sie von jemandem schwanger war und nicht verriet, von wem. Sie ginge schon in leere Lagerräume, um dort zu weinen, das würde kein gutes Ende nehmen, bald würde sie in der Psychiatrie landen, dachte die Bibliothek.
Nun betrachteten sie die Leiche bereits zu dritt: Emőke Széles und ihre beiden ratlosen Aufmunterer. Sie wussten nicht, was sie ihr sagen sollten. Genauer gesagt, trauten sie sich nicht, weil sie sich kannten. Feinfühligkeit gehörte nicht zu ihren Stärken, und sie befürchteten, etwas Blödes zu sagen, wodurch Emőke Széles wieder in Tränen ausbrechen würde. Sie schwiegen also aus Feingefühl. Aber Tabaki, der schnell und intensiv lebte, wurde der Lage bald überdrüssig.
„Du, Gábor, was isn jetzt eigentlich?“, fragte er. „Warum starren wir den Typen an?“
Gábor, in offizieller Funktion
Herr der Lage
, winkte ab. Sein Gehirn war jedoch im Leerlauf, dabei hätte er den Ausweg aufzeigen müssen, die Möglichkeit, Emőke Széles’ gute Laune zuerst herzustellen und dann zu steigern. Aber auch er hatte bereits eingesehen, dass sie gescheitert waren, das Foto der hundertfünfzig Jahre alten Leiche hatte sich als aufmunterungsuntauglich erwiesen. Dabei hatte Gábor sehr auf die Wirkung, nämlich sie damit zu erschrecken, vertraut; er hielt das für schwarzen Humor. Es war also alles umsonst, das Unterfangen, Emőke Széles’ Stimmung zu heben, war missglückt: Sie war weiterhin traurig. Unsäglich traurig. Tabaki ging also wieder, kichernd und wie immer halblaut summend, und Gábor versuchte auch an diesem Tag nicht, Emőke zur Abtreibung zu überreden. Er half ihr, das Leichentuch aus Papier zu basteln, um wenigstens so lange bei ihr zu sein.
Man muss jedoch zugeben, dass er als Privatperson, also nicht in seiner Funktion als
Herr der Lage
, tatsächlich von dem Toten entzückt war: John Torrington hatte ein Gesicht wie ein Mensch von heute. Das war gerade das Erschreckende an ihm. Denn natürlich muss es solche Kopfformen bereits im 19. Jahrhundert gegeben haben, Tabaki erzählte völligen Quatsch, aber die von der Zeit des Anstands geprägten Gemälde, auf denen diese abgebildet worden waren, hatten die Gesichter in künstliche, viktorianische Gesichter verwandelt. Dieser Torrington wird wohl auch sein ganzes Leben mit einem viktorianischen Gesicht verbracht haben, nur der Tod hatte ihm seine natürliche Form zurückgegeben, welches vom Eis dann konserviert wurde.
Darüber dachte
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