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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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hätte es wohl noch weniger geglaubt, wenn Patai nicht daran geglaubt hätte. „Schattenregierung“ konnte er jedoch schlecht sagen, da hätte ihn Patai nur ausgelacht.
    „Wenn ich Ihnen einen Rat geben kann, lassen Sie Ihren Freund heute in Frieden. Heute wird er auch ohne Sie genug Schwierigkeiten haben.“
    Was würde Kornél heute passieren, und warum erzählte Patai ihm das? Plante Kornél irgendetwas? Ohne ihn?
    „Aber heute gibt es angeblich etwas in der Bibliothek …“
    „In der Bibliothek gibt es immer etwas. Das ist unter anderem der Grund dafür, dass sie eine Bibliothek ist. Und wo es nichts gibt, da herrscht die Leere.“
    „Ich meine den … Leichenschmaus.“
    „Ach, Sie meinen die Schattenregierung?“, fragte Patai mit einem Grinsen.
    „So kann man es auch nennen, glaube ich … Sollten wir da heute nicht … vielleicht … drehen?“
    „Sie drehen dort, wo Sie wollen. Das ist Ihre Angelegenheit.“
    „Alles klar, Herr Patai“, sagte Gábor. „Die Frage ist nur … womit?“
    „Mit der Videokamera, die sich im Zimmer Ihres Freundes befindet.“
    „Es gibt eine Kamera?“, fragte Gábor überrascht.
    „Ich habe sie ihm schon vor Wochen gegeben. Das hat er Ihnen gar nicht gesagt? Hm. Er hat wohl Geheimnisse vor Ihnen?“
    „Will er es allein machen?“, rief Gábor. „Ich habe es gewusst!“
    „Hören Sie, Ihr Freund verfügt über genügend angeborenes Feingefühl, die Gründung von Schattenregierungen nicht aufzunehmen. Das ist eine intime Sache. Und ich will noch einmal betonen, er wird sich heute mit ganz anderen Dingen beschäftigen müssen. Zum Beispiel hat er heute Mittag bei mir hier anzutanzen. Ich will ihm den Kopf waschen.“
    „Oh“, sagte Gábor vor Freude, weil ihm dadurch eine große Last abgenommen wurde: Denn er hatte sich wirklich fest vorgenommen, Kornél heute, komme, was wolle, aufzusuchen, um mit ihm über Emőke Széles zu sprechen. Die beiden mussten zu dieser verdammten Abtreibung überredet werden, denn sie würden es noch fertig bringen, die Entscheidung so lange hinauszuzögern, bis sie das Kind behalten müssten. Und das wäre ihr Ende. Denn sie würden sich gegenseitig umbringen. In der Abtreibung sah Gábor nichts Tragisches, er hielt sie für ein notwendiges Übel, ja, im Grunde hatte er überhaupt keine Meinung dazu. Er für seinen Teil kannte die harte und entschlossene Antwort, falls ihm eines Tages eine Frau mitteilen würde, schwanger von ihm zu sein (diese Gefahr drohte ihm vorerst nicht, denn Tímea Hettesi, seine Liebe aus dem Gymnasium, war im Frühling des vergangenen Jahres im Káler Wald verschwunden). Aber vor dem Gespräch mit Kornél war ihm etwas bang, denn es war nicht einfach mit ihm. Ihm eine Standpauke zu halten, war kein ungefährliches Unterfangen. Kornél muss das Zusammentreffen jedoch ebenfalls gefürchtet haben, denn auch er ging Gábor aus dem Weg. Eigentlich gingen die beiden einander bereits seit jenem Tag aus dem Weg, an dem Gábor in die Bibliothek gekommen war. Er verstand das alles nicht. Seit drei ganzen Wochen. Er war deshalb auch ziemlich verzweifelt. Daher freute er sich jetzt sehr: Wenn Patai schon mit ihm sprach, würde nicht er Kornél zur Besinnung bringen müssen. Wenn jemand Einfluss auf ihn haben konnte, dann war das niemand anderer als Patai.
    „Aber diese Sache mit der Schattenregierung ist doch nur ein Scherz, oder, Herr Patai?“
    „Natürlich. Was haben Sie denn gedacht?“, sagte Patai in einem Ton, der hätte bewirken können, dass man drei komplette ungarische Schattenregierungen samt deren Marineministern ernst nahm.
    Und Patai erzählte Gábor kurz, wie die Gerüchte über die Schattenregierung hatten entstehen können. Im Herbst war wegen eines unglücklichen (nach Meinung böswilliger Menschen, des ersten mutigen) Satzes von Onkel Olbach eine komplette Ausgabe der Tageszeitung
Magyar Nemzet
eingestampft worden. Im Interview anlässlich seines Geburtstages hatte er gesagt, es sei schlicht und einfach ein Fehler gewesen, vor hundert Jahren die allgemeine Schulpflicht einzuführen, da es fünfundneunzig Prozent der Menschen viel besser ginge, wenn sie weder lesen noch schreiben könnten. Er griff damit zwar nicht die nach sowjetischem Muster aufgebauten Gesellschaftssysteme an, sondern nur den europäischen Humanismus im Allgemeinen – letztlich basierten jedoch auch die nach sowjetischem Muster aufgebauten Systeme auf dem Humanismus, und da sich diese Systeme seit der großen sozialistischen

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