Liebe Unbekannte (German Edition)
Oktoberrevolution ungefähr vierzig Millionen Morde haben zuschulden kommen lassen, sind sie sehr empfindlich, was antihumanistische Sätze betrifft: Sie neigen dazu, sie auf sich zu beziehen. Und das ist gewissermaßen verständlich, denn so viele Morde gibt kein Gesellschaftssystem gerne zu, erst recht kein totalitäres. Deshalb lässt es die Ausgabe eines Tagesblattes, in dem ein verbitterter alter Mann den Humanismus, wenn auch nur indirekt, kritisiert, lieber einstampfen. Dieser Vorfall war es, an dem Onkel Olbach im Herbst erkrankte (wobei manche der Ansicht waren, er sei vorher schon krank gewesen).
„Schließlich starb nicht er an der Angelegenheit“, fuhr Patai fort, „sondern seine liebe Frau Mara. Der Alte wird jedoch nicht ohne Grund das Gefühl haben, auch seine Tage seien gezählt. Wenn eines Tages Ihre Frau stirbt, werden Sie verstehen, was ich meine.“
Patai verzog den Mund.
Tante Mara war Dienstagmittag auf dem Farkasréter Friedhof beigesetzt worden. In einem staatlichen Ehrengrab.
„Es war übrigens eine schöne Beerdigung. Eine außergewöhnlich schöne Beerdigung. Und es ist nicht einfach, mit einer so schönen Beerdigung einfach aufzuhören. Deshalb wird heute Nachmittag in Erinnerung an Frau Olbach ein kleiner Leichenschmaus veranstaltet. Alle, die von den alten Bibliotheksleuten noch am Leben sind, werden erscheinen. Und es wäre doch eine Schande, sich in der heutigen Welt so eine Gelegenheit zur Gründung einer Schattenregierung entgehen zu lassen. Was meinen Sie?“
„Ich bin mir fast sicher, dass ich Sie verstehe“, sagte Gábor.
„Wenn Sie also wollen, können Sie heute mit den alten Bibliotheksleuten sprechen. Gehen Sie um die Mittagszeit herum zum Diensteingang und machen Sie sich dort nützlich. Manche werden mit dem Taxi kommen, manche werden vom Dienstwagen abgeholt. Sie gehen brav hin, helfen den Greisen, aus dem Auto zu steigen, versuchen, ihnen dabei nicht die Knochen zu brechen und begleiten sie zum Aufzug. Für die Aufgabe ist Muskelkraft erforderlich, darüber verfügen Sie ja. Dabei können Sie mit dem sprechen, der Ihnen gefällt. Aber wenn Sie mich fragen, ich würde mich mit niemandem unter dem alten Olbach begnügen. Wissen Sie was? Sie bekommen ein Empfehlungsschreiben von mir, das sie ihm geben können. Warten Sie.“
Patai schrieb einige Zeilen auf ein Blatt Papier. Gábor saß aufgeregt auf der anderen Seite des Schreibtischs. Er hatte noch nie ein Empfehlungsschreiben bekommen und ahnte, dass er auch nie wieder eines bekommen würde, da die Institution des Empfehlungsschreibens stark aus der Mode zu kommen drohte.
„Wollen Sie es lesen?“
„Ich vertraue Ihnen, Herr Patai.“
„Das ist nett von Ihnen. Also, hören Sie zu:
Mein lieber Bandi, dieser junge Mann heißt Gábor Kender und, glaub mir, der Schein trügt, denn er ist ein wirklich tüchtiger Junge, lass dich nicht davon täuschen, dass er sich nicht von sich selbst aus vorgestellt hat. Er hatte keine Kinderstube. Er sehnt sich nach Erfahrungen und Wissen. Und nach einem Dach über dem Kopf. Er ist ein idealer Sekretär. Vom Holzhacken bis zum Tippen kannst du ihn für alles verwenden. Gleichzeitig möchte ich dir mein herzliches Beileid ausdrücken. Ich hatte nicht die Geduld, das Ende der Beerdigung abzuwarten. Am 1. Januar gehe ich in Rente, denn ich habe mehrere Nachrichten aus der Hölle erhalten, aus denen hervorgeht, dass ich bereits sehnlichst erwartet werde. Patai.“
Patai klebte den Umschlag zu und übergab ihn Gábor.
„Und jetzt machen Sie, dass Sie fortkommen. Bringen Sie keine Schande über mich. Und sagen Sie das mit den vierzig Millionen Morden nicht weiter. Das ist eine familieninterne Angelegenheit, sozusagen.“
Die Konsultation war damit beendet. Gábor verließ verstört das Zimmer seines Meisters.
Was Patai über die Hölle geschrieben hatte, stimmte. Nicht, dass es ihn sonderlich gewundert hätte, sich neuerdings bei Selbstgesprächen zu ertappen. Er hielt es für den natürlichen Lauf der Dinge, dass jemand, der in seinem Alter allein blieb, bald verrückt wurde. Vielleicht war es sogar noch die bessere Variante, wenn er laut zu sprechen begann, statt leise in sich hinein. Er hielt es auch für normal, dass er zu Klárika sprach, wenn er allein war. Die Gespräche waren wie zu ihren Lebzeiten. Er gab an, meist mit Frauen, und Klárika hasste ihn dafür.
Aber als Gábor nun aus dem Zimmer ging, tat er ihm plötzlich sehr leid. Und damit wusste er nichts
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