Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
Vom Netzwerk:
Vielleicht sind es auch zwanzig. Und stellen Sie sich vor, in diesen zwanzig Jahren sind beide ergraut, und zwar vollkommen. Dabei sind beide noch ziemlich jung. Ich erinnere mich noch an die Haare von Iván: Sie waren lockig und dunkelblond. Und die von Edit waren schwarz und glatt. Und jetzt haben beide silberweiße, glatte, vollkommen gleiche Haare. Aber seine sind in Schweden ergraut und ihre in Budapest! Nun soll mir mal jemand sagen: Waren die beiden füreinander bestimmt, oder nicht? Solche Geschichten kann nur das Leben hervorbringen.“
    Gábor interessierte sich mehr für die Hydrodynamik unterirdischer Gewässer als für lebenslang anhaltende, schicksalshafte Liebesverbindungen, aber dieses Bild der gleich ergrauten Liebenden hinterm Sarg hatte sogar auf ihn eine Wirkung: Kornél würde mit dieser Geschichte sehr zufrieden sein! Er hörte Tante Gizella auch mit Kornéls Ohren zu.
    „Und Edit hat Iváns Hand ergriffen und während der ganzen Beerdigung nicht losgelassen. Hinterm Sarg, auf dem Weg zum Grab und auch am Grab nicht. Sie standen die ganze Zeit Hand in Hand da. Und diese beiden haben sich scheiden lassen! Das bricht einem das Herz.“
    „Das verstehe ich absolut“, sagte Gábor.
    Auf der Beerdigung war aber auch noch etwas anderes passiert. Am Anfang, in der Friedhofskapelle. Tante Gizella hatte hinten gestanden, sie mochte kein Gedränge. In der Menschenmenge (es waren nämlich viele gekommen, man schätzte die arme Mara sehr. Draußen in Nyék, wo sie wohnten, wurde sie beinah als Heilige verehrt!) stand auch Patai mit einem Blumenstrauß. Und zwar ganz hinten. Um ihn herum waren vor allem alte Frauen aus Nyék, die entsetzt zu ihm hinaufblickten, als sie hörten, was er sagte. Denn als er die beiden ergrauten Köpfe nebeneinander erblickte und sah, wie Edit Iváns Hand ergriff, sagte er halblaut:
    „Ja, da schau her. Was für ein herzzerreißender Anblick.“
    Die Trauergäste, die neben ihm standen, sahen ihn entrüstet an. Er ließ sich nicht stören. Er konnte über die Köpfe hinwegblicken, stellte sich dennoch auf Zehenspitzen, starrte die beiden an und schüttelte den Kopf. Eine Weile wartete er noch. Als nach dem Gemeinderatsvorsitzenden von Nyék, Ervin Gál und dem evangelischen Pfarrer auch noch der katholische Priester das Wort ergriff, hatte er die Nase endgültig voll.
    „Langsam reicht’s aber“, sagte er laut.
    Er drückte seinen Blumenstrauß einer alten Frau aus Nyék in die Hand.
    „Meine Liebe, seien Sie doch so nett und legen Sie das aufs Grab.“
    Dann ging er einfach. Ließ die Trauerzeremonie Trauerzeremonie sein. Patai war eine ausgesprochen charakteristische Gestalt, Gábor konnte sich gut vorstellen, wie er mit seinen langen Schritten die Friedhofskapelle verließ, über den großen, betonierten Platz bis zum Eingangstor lief und verschwand.
    „Gott sei Dank“, beendete Tante Gizella die Geschichte, „kam es nicht zum Skandal. Aber dass jemand gleich am Anfang einer Trauerzeremonie nach Hause geht, so etwas habe ich noch nie gesehen. Sie, mein Junge, würden auch besser daran tun, bei ihm aufzupassen. Sie machen natürlich, was Sie wollen, aber es wäre auf jeden Fall besser, wenn man seinen Namen nicht in einem Atemzug mit Ihrem nennen würde. Dieser Mensch ist nicht ganz dicht, ihm ist alles zuzutrauen.“
    Den Rest seines Vormittags widmete Gábor dem Studium des Lebenswerks von Endre Olbach. Er las nicht nur mit seinen, sondern auch mit Kornéls Augen. Er war vom Jagdfieber ergriffen. Er blätterte alles durch und verglich die erste Ausgabe von
Der Aufstieg des Morgenlandes
(1938) flüchtig mit der zweiten von 1958. Die Unterschiede musste er nicht lange suchen, denn die zweite Ausgabe war zwei Zentimeter schmaler.
    Punkt Mittag stellte er sich vor den Diensteingang, um dem Einzug der alten Bibliotheksleute beizuwohnen. Da wusste er nicht nur über Onkel Olbach, sondern über alle
Großen
so viel, wie andere erst in einer ganzen Woche in Erfahrung gebracht hätten. Was eine Menge war, aber natürlich nicht alles. Dennoch: Das sollte ihm erst einmal einer nachmachen! Zum Beispiel Kornél. Er war beinah zufrieden mit sich. Einen Mantel zog er trotzdem nicht über, um die Mängel in seiner fachlichen Vorbereitung durch demonstratives Leiden auszugleichen. Der Gedanke an die Lungenentzündung, die er im Herbst gehabt hatte und aus der er kaum genesen war, rief statt Unruhe eher Begeisterung in ihm hervor. Außerdem war ihm sein hässlicher Lammfellmantel

Weitere Kostenlose Bücher