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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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peinlich.
    Bei zehn Grad minus wartete er eine Dreiviertelstunde. Er zitterte, seine Zähne klapperten laut.
    Und dann kamen die alten Bibliotheksleute. Ungefähr gleichzeitig, zur angegebenen Uhrzeit. Gábor machte bereits Hockübungen, um sich einigermaßen aufzuwärmen. Es kamen viele. Manche von ihnen kamen mit den Aufzügen, manche wurden von Leuten, die Familienmitglieder zu sein schienen, mit dem Auto gebracht. Manche kamen mit dem Taxi. Die, die mit den Aufzügen gekommen waren, betraten die Bibliothek durch den Diensteingang. Die anderen durch den Haupteingang auf dem Löwenhof.
    Gábor musste sich zwischen den beiden Eingängen entscheiden. Er entschied sich für den wärmeren Ort: den Diensteingang. Er betrachtete die aus den Aufzügen kommenden unbekannten, alten Gesichter und versuchte zu erraten, was diese Leute im Leben der Bibliothek früher für eine Rolle gespielt haben mochten: Dieser war vielleicht ein Enzyklopädist, dieser nur ein alter Bibliotheksmitarbeiter, dieser Naturwissenschaftler, dieser Soziologe, dieser womöglich Biochemiker. Manche erkannte er. Aber für Endre Olbach hatte er ein Empfehlungsschreiben, daher wollte er sich mit niemand Geringerem begnügen.
    Dann rannte er zurück zum Haupteingang, weil er dachte, jemand von wirklich großem Format käme wohl doch eher mit dem Auto.
    In der Nähe des Haupteingangs sah er einen Mercedes mit schwedischem Nummernschild parken. Das sagte ihm, er hätte sich doch nicht zu den Aufzügen stellen sollen: Offenbar war Endre Olbach von seinem Sohn mit diesem Wagen gebracht worden. Er hatte ihn also verpasst. Mist. Er holte tief Luft, ging hinauf zum großen Saal und klopfte.
    „Guten Tag“, sagte er zähneklappernd. „Ich würde gerne mit dem sprechen, zu dessen Ehren diese Feier veranstaltet wird.“
    Darunter verstand er Onkel Olbach.
    „Das geht leider nicht, mein Sohn“, sagte Ócsai. „Sie ist bereits von uns gegangen. Das hier ist ein Leichenschmaus.“
    „Ach so, Entschuldigung. Ich bringe Herrn Olbach Herrn Patais Nachricht.“
    Ócsai hätte Gábor hereingelassen, aber als er Patais Namen hörte, verzog er das Gesicht zu einem hämischen Grinsen.
    „Ervin, komm doch mal bitte für einen Augenblick.“
    Ervin Gál kam zur Tür.
    „Herr Patai hat uns diesen Jungen geschickt“, sagte Ócsai. „Er will mit Onkel Endre sprechen.“
    „Ich überbringe ihm die Nachricht“, sagte Ervin Gál trocken. „Lassen Sie hören.“
    „Aber ich habe auch einen Brief für ihn.“
    „Den gebe ich ihm ebenfalls.“
    „Ich kann ihn aber nur persönlich abgeben“, sagte Gábor.
    „Also, Gábor“, sagte Ócsai und schüttelte den Kopf. „Hast du so wenig Vertrauen?“
    „Nein, aber das ist ein Empfehlungsschreiben“, rückte Gábor endlich mit der Sprache heraus.
    „Ach so ist das“, sagt Ervin Gál grinsend. „Dann geben Sie es ihm ein anderes Mal.“
    Ervin Gál wollte sich nicht mit Patai anlegen, da dieser vielleicht immer noch hätte verhindern können, dass man Ervin Gál zum Leiter der Bibliothek ernannte, und Ervin Gál wollte Leiter der Bibliothek werden. Deshalb duldete er seit Langem, dass Patai alle möglichen suspekten Gestalten als Mitarbeiter des Instituts für Herausgabe von Enzyklopädien (IHE) einstellte, außerdem, dass diese die Teile des Gebäudes, die außer Betrieb waren, bewohnten, wie zum Beispiel die Eckkuppel oder die Kellerräume, die leer standen, um irgendwann einmal die Verwaltungsabteilung des elektronischen Bibliothekskatalogs zu beherbergen. Ervin Gál erduldete viel von Patai. Aber Gábor, das war etwas anderes. Mit Gábor machte jeder gerne seine Späßchen. Sogar Ócsai, der ihn mochte, und erst recht Ervin Gál, in dem nur noch ein kleiner Rest Liebe flackerte, der jedoch vollständig seiner aus dritter Ehe geborenen kleinen Tochter Melinda vorbehalten war.
    „Sie sind ein Mitarbeiter des Instituts“, fuhr er Gábor an. „Und das hier ist – ausnahmsweise – keine Institutsveranstaltung. Sondern eine Bibliotheksveranstaltung.“
    Gábor wusste, dass sich im Saal nicht nur Bibliotheksmitarbeiter aufhielten, sondern auch etliche IHELeute, aber er kümmerte sich nicht weiter darum, er hatte sich schon daran gewöhnt, schikaniert zu werden: Beim Militär war ihm sein Urlaubsantrag auch so gut wie nie bewilligt worden. Im Grunde zog er sich zufrieden aus der Tür des großen Saals zurück: Es wäre vielleicht sogar besser, wenn er und Kornél Endre Olbach gemeinsam aufsuchen würden. Immerhin

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