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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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und die ständige Panik. Damals kannte man das noch nicht unter dem Namen Panikstörung, sondern unter vielen anderen: zum Beispiel psychosomatisch begründete, krankhafte Gewichtszunahme. Gerda wusste selbst nicht, dass sie krank war. Sie fühlte sich ständig krank, aber es stellte sich immer wieder heraus, dass sie es nicht war. Sie hatte jedoch seit September dreißig Kilo zugenommen.
    „Das ist wie eine Bleivergiftung, Tamás“, sagte sie mir bereits seit einer Weile, damit meinte sie jedoch nicht das Zunehmen, sondern ihre Trägheit. In der Filmfabrik hatte sie wochenlang fünfzehn Stunden am Tag durchackern können – sie interessierten jedoch nur große Aufgaben. Jetzt hatte sie keine großen Aufgaben mehr. Sie arbeitete in einer Arztpraxis in der Tétényi Straße.
    Wenn ich nicht zu spät nach Hause kam, besuchte sie mich abends in meinem Zimmer. Seit September bettelte ich sie an, mir dieses verdammte Drehbuch zu zeigen, sie möge es mich doch lesen lassen, aber ich konnte sie nicht dazu bewegen. Sie habe dermaßen die Lust daran verloren, dass sie gar nicht mehr wisse, wo sie die Kopie hingelegt habe. Ich fragte sie, ob sie mich wirklich für so blauäugig halte, dass ich ihr das abnehme, sie zuckte jedoch nur mit den Schultern.
    „Wenn du mir deine Gedichte zeigst.“
    „Natürlich zeige ich sie dir. Sobald es etwas Vorzeigbares gibt. Sie sind noch nicht perfekt. Aber ich arbeite daran.“
    Das verstand sie.
    „Nie wird etwas perfekt! Siehst du, das ist die Bleivergiftung. Davon spreche ich. Unsere ganze Familie ist so. Wir sind alle mit dieser ohnmächtigen Trägheit geschlagen. Du, ich, von Vater ganz zu schweigen.“
    Vater hatte im August einen Herzinfarkt gehabt, weshalb wir über ihn wirklich lieber ein bisschen schwiegen.
    „Der Schwache muss eben verlieren“, sagte ich dann zynisch, damit Gerda es jedoch nicht auf Vater allein bezog, fügte ich noch schnell hinzu:
    „Ich meine die ganze Familie. Diese Konstruktion hat sich als untauglich erwiesen.“
    Es war also an der Zeit, dass sich die Krizsáns im Kampf ums Dasein geschlagen gaben. Aber eigentlich meinte ich damit nur mich, weil ich an den Königinnenbalkon in der Bibliothek dachte, wo ich im Sommer eine unverzeihliche Schandtat begangen hatte. (Ich hatte eigentlich unterlassen, etwas zu tun – und jetzt musste ich wohl wegen unserer Trägheit daran denken.) Gerda konnte nicht wissen, was ich meinte, weil ich mich bisher nie getraut hatte, ihr die Sache mit dem Königinnenbalkon zu erzählen. Ich schämte mich unendlich dafür und tue das noch heute.
    „Einer von uns könnte sich aber noch als tauglich erweisen“, sagte sie mit einem Lächeln.
    Ich schüttelte den Kopf.
    „Wir müssten aussterben“, sagte ich düster. „Ich zumindest. Und das schleunigst.“
    Ich holte tief Luft, weil ich beschlossen hatte, Gerda nun, komme, was wolle, die Sache vom Königinnenbalkon zu erzählen. Ich wollte es mir von der Seele reden. Es gelang mir jedoch nicht, da sie mir zuvorkam. Sie sah, dass ich an diesem Tag besonders miserable Laune hatte, also beschloss sie, mich mit meinem Schwur zu erpressen.
    „Hör zu, Bruderherz. Du hast der Familie leichtsinnigerweise einmal etwas versprochen …“
    Sie war so taktvoll, nicht „Schwur“, sondern „Versprechen“ zu sagen, aber ich wusste natürlich gleich, was sie meinte.
    „Der bleivergifteten Familie?!“, unterbrach ich sie nervös und ungerecht, als würden mich alle täglich zur Rechenschaft ziehen, wann ich endlich Rache üben würde. „Soll ich mich am Blei für die Vergiftung rächen? Oder an was sonst? Lasst mich doch endlich in Ruhe damit.“
    Sie ließ sich nicht stören.
    „Du hast damals versprochen, es zu etwas zu bringen“, sagte sie ruhig. „So habe ich die Rache zumindest verstanden. Also halte dich bitte daran. Komm weg aus der Bibliothek. Und bereite dich endlich einmal richtig auf die Aufnahmeprüfung an der Uni vor.“
    Inzwischen hatte ich es an der Universität nämlich bereits mehrmals versucht. In einem Jahr hatte ich die Bewerbungsunterlagen falsch ausgefüllt. In einem anderen traute ich mich gar nicht erst hinzugehen.
    „Ich helfe dir“, fügte sie hinzu.
    Und wir machten aus, dass ich wiederum ein Auge darauf haben würde, dass sie sich auch dieses Jahr wieder fürs Medizin studium bewarb.
    Das war vor einigen Wochen. Jetzt, als sie von Mutter kam, traf sie Erika in meinem Zimmer an, die mir gerade von der Beerdigung erzählte.
    „Du musst ihn dir aber

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