Liebe Unbekannte (German Edition)
des Lebens zu frönen. Sich zu sonnen, Bier zu trinken und gemeinsam mit Kornél über Hitler nachzudenken.
So wie jetzt. Sie saßen auf dem Sims neben dem Fenster der Eckkuppel, ließen die Beine baumeln und betrachteten die polnischen Gastarbeiter, die ein Stockwerk tiefer auf dem Baugerüst standen. Tabaki stellte sich vor, dass Kornél auch in der künftigen Musikgruppe
Edgar Allan Poporchester
, deren Namen er erst später zu
Nimmermehr
vereinfachte, singen sollte, er war jedoch zu faul, ihm das erneut zu sagen, und Kornél wollte im Augenblick gar nichts, unter anderem auch nicht singen.
Emőke Széles und er waren am Tag zuvor in die Eckkuppel gezogen. Mittlerweile hatten sie sich auch schon eingerichtet. Dieser Nachmittag wurde ihr zweiter und zugleich letzter schöner Nachmittag hier, denn Emőke Széles’ Mutter wurde noch am selben Abend ins Krankenhaus eingeliefert. Dafür gab es im Moment jedoch noch keine Anzeichen. Es war Altweibersommer, die Sonne schien warm. Kornél, Tabaki und Emőke Széles, die sich inzwischen aus dem Zeitschriftenarchiv weggestohlen und zu ihnen gesellt hatte, um mit ihnen Bier zu trinken, erfreuten sich am Budaer Panorama. Und wenn Emőke schon da war, konnte sie es sich nicht verkneifen, eine laute, kritische Bemerkung über eine Elster zu machen, die noch ungeschickter als ihre Artgenossinnen vor ihren Augen von der Christinenstadt her über den an der Stelle des zerstörten Tabán angelegten Park flog.
„Ach, Fliegen ist ja so eine schwierige Angelegenheit!“, sagte Emőke Széles zu dem linkischen Vogel. „Aaach, was für eine verrrdammt schwierrrige Angelegenheit das Fliegen doch ist!“
Ihre Bemerkung erntete Erfolg. Sogar die polnischen Gastarbeiter schauten zu ihnen hinauf und verstanden genau, worum es dort oben ging: Darum, dass das Leben schön war, vor allem, wenn man zusammen war. Und dass es in Ungarn noch schöner war als woanders, zumindest vermittelte die lustige, kleine Truppe von dem sonnenbeschienenen Sims dort oben den polnischen Gastarbeitern, die von einer Wirtschaftskrise aus ihrer Heimat hierher vertrieben worden waren, dieses Gefühl. Und sie sahen es ganz richtig: Jetzt auf dem Balkon zu sein, war wirklich schön. Eine legendäre halbe Stunde. Dank Tabaki wurde in der Bibliothek aus Emőke Széles’ Satz später ein geflügeltes Wort: Achwasfüreine verrrdammt schwierrrige Angelegenheit das Fliegen doch ist! Kornél fiel der
Stein der Weisen
ein und er beschloss, Gábor noch am gleichen Tag einen Brief nach Tapolca zu schicken.
„Na siehst du, genau das meine ich“, sagte Kornél, nachdem sie Emőke Széles noch sechsmal gebeten hatten, die Aufführung zu wiederholen, und der Lachanfall nun langsam verebbte. „Wir sitzen hier in dieser unglaublich großen Idylle und verstehen alles falsch.“
„Das verstehe ich nicht, aber deine Freundin würde ich gerne übernehmen, das steht fest“, antwortete Tabaki.
„Dann verstehst du es doch“, sagte Kornél, lächelte und lieh Tabaki seine Freundin nicht aus, obwohl er gerade daran dachte, Emőke Széles zu verlassen.
„Ich gehöre ihm“, sagte Emőke Széles zu Tabaki, streckte die Zunge heraus und kletterte demonstrativ auf Kornéls Schoß. „Von ihm will ich ein Kind.“
„Salzgrube“, sagte Tabaki, der die Gespräche gerne mit aus dem Zusammenhang gerissenen Wörtern bereicherte. „Setzkescher. König Elek.“
Darauf einigten sie sich.
Die Nacht verbrachten Emőke und Kornél jedoch schon auf dem Gang der Notaufnahme. Emőke machte sich und Kornél Vorwürfe, dass sie beide ihre Mutter töten würden, indem sie weggezogen seien und kündigte an zurückzuziehen, um sie zu pflegen. Kornél erwiderte, in Ordnung, aber nur, wenn es notwendig sein würde, womit er andeutete, dass Dr. Magda Feld unter Umständen auch sterben könnte. „So etwas darfst du über Mama nicht sagen, das darf nur ich“, fuhr Emőke ihn an, woraufhin er antwortete, er sei ein freier Mensch und sage, was er wolle. Und sie begannen einen Streit über die Freiheit, da ihnen reichlich Zeit zur Verfügung stand. Emőke Széles sagte, sie sei auch ein freier Mensch und Freiheit sei für sie das Wichtigste auf der Welt, woraufhin Kornél sagte, das sei ja gar kein Wunder, wenn für sie ihre Mutter die Freiheit bedeute. Das stimme überhaupt nicht, sagte Emőke Széles, und wenn sie schon dabei seien: Sie halte Tabaki für den freiesten Menschen, den sie kenne. Na, da tue sie ihm ganz schön leid, sagte Kornél.
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