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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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als eine rockhistorisch relevante Erscheinung betrachten konnte. Außerdem hatte ich vage in Erinnerung, dass sich die Band ohnehin bereits aufgelöst hatte.
    „Wie heißt die Bibliotheksband nochmal?“, fragte Gerda mit einem Lächeln und überließ somit mir die Freude, es Vater zu erzählen.
    „
Gut Durchbluteter Unterbauch
“, antwortete ich.
    Vater entlockte der bescheuerte Bandname auch ein Lächeln. Auf detaillierte rockgeschichtliche Erläuterungen verzichtete er.
    Dabei war und ist die ungarischsprachige Rockmusik eines der kleineren Wunder der Schöpfung, auch wenn ihr Ursprung auf einem Missverständnis basiert: Die Verfasser der Texte konnten meist kein Englisch und gingen davon aus, dass die Texte der englischen Songs gut waren. Deshalb schrieben sie für ihre eigenen Lieder bessere Gedichte, als unbedingt notwendig gewesen wäre. Das war nicht das erste Missverständnis dieser Art in der Kulturgeschichte. Der deutsche Klassizismus entstand zum Beispiel darum, weil die, aus denen dann die deutschen Klassizisten wurden, dachten, griechische Skulpturen hätten immer mit leeren Augen in die Welt gestarrt. Als die Kunstgeschichte zu der Erkenntnis gelangt war, dass die griechischen Skulpturen angemalt waren, und die Farbe nur im Laufe der Zeit abgeblättert war, war es bereits zu spät, und der deutsche Klassizismus war geboren, mit seinen schönen, kühlen Regeln und dem Verbot des Kitsches. Und mit dem Verbot der Sentimentalität, dem Verbot der kleinen Makel, ja, dem Verbot von fast allem, und natürlich könne man nicht alles dem deutschen Klassizismus in die Schuhe schieben, aber er habe gründlich dazu beigetragen, dass die Gefühle aus der Welt verschwunden und solche moralischen Gebote entstanden seien, erklärte Kornél, die man nicht einhalten könne, und daraufhin sei Hitler mit seinen großen, blanken, verkitschten Dingern gekommen, die er für klassizistische Skulpturen hielt, und schon seien die Grundsteine für die ganze Schweinerei gelegt worden.
    „Bei dir kommt am Ende immer Hitler“, sagte Tabaki mürrisch, wobei bei ihm am Ende auch immer Hitler kam, ja, es gab in der Bibliothek, genauer gesagt, damals eigentlich in ganz Europa niemanden, bei dem am Ende nicht auf irgendeine Art Hitler gekommen wäre, außer dem Pförtner, Onkel Öcsi, bei dem Hitler am Anfang stand, da er mit diesem flüchtig Bekanntschaft geschlossen hatte. Ob es nun stimmte oder nicht, auf jeden Fall hatte Onkel Öcsi mit dieser Bekanntschaft vor gut vierzig Jahren das letzte Mal angegeben, seitdem schwieg er über die Sache wie ein Grab, obgleich er nicht wusste, dass sein Sohn, der eine Vogelhandlung in Melbourne hatte, einer der Henkersknechte war, die Antal Szerb umgebracht hatten, und es gereicht der Bibliothek zur Ehre, dass sie es ihm nie erzählt hat, denn Onkel Öcsi mochte Antal Szerb sehr, er war sein Lieblingsleser. Denn wie alle in der Bibliothek, hatte auch Onkel Öcsi keine Lieblingsbücher, sondern Lieblingsleser. Durch das Taktgefühl der Bibliothek hatte Onkel Öcsi seinem Sohn bis zu seinem Tod nichts anderes vorzuwerfen, als dass er nicht wenigstens auf der nördlichen Hemisphäre geblieben war.
    „Und wenn du dich auf den Kopf stellst, Tabaki, am Ende kommt bei dir auch immer Hitler“, sagte Kornél also zu Tabaki.
    „Bei mir kommt am Ende der goldene Schuss“, sagte Tabaki, der viel von dieser Todesart mit dem schönen Namen gehört hatte und große Hoffnungen hegte, sein Leben als Heroinabhängiger zu beenden. „Du meinst also, ich soll schlechtere Texte schreiben. Kann ich versuchen.“
    Tabaki war kein empfindlicher Mensch, einen guten Rat nahm er von jedem an, außerdem war es gerade erst Herbstanfang, der Dezember lag noch in weiter Ferne, und mit ihm der Tag des Bibliothekballs, an dem er vielleicht den einen oder anderen neuen Text, ein paar neue Lieder und vor allem eine nagelneue
Popband
, wie Tabaki seine Musikgruppen nannte, benötigen würde. Den
Unterbauch
gab es schon seit einer Weile nicht mehr, denn im Frühjahr war nicht nur der eine Sänger ausgeschieden, sondern auch der Schlagzeuger und der Rhythmusgitarrist, und nun war Tabaki gerade dabei, eine neue Popband unter dem fantasielosen, aber präzisen Namen
Provincia
aufzubauen. Die künftige Band
Nimmermehr
gab es noch nicht einmal ansatzweise, und Brüll, der Sologitarrist, schlief praktisch seit einem halben Jahr. So konnte es sich der vorübergehend allein gebliebene Tabaki im Herbst leisten, den einfachen Freuden

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