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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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käme.
    Ich holte ihn bei der Bushaltestelle ein. Er stand da und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Vor seine Augen hielt er ein Buch, um seine Seele, die aus ihm flüchten wollte, durch irgendetwas aufzuhalten. Mitleid überkam mich. Ich stellte mich zu ihm und wartete, bis er mich bemerkte.
    „Gábor!“
    Er blickte auf und grinste dankbar, so als würde er sagen wollen: „Danke, Tamás, dass du doch noch gekommen bist.“ Dann sagte er jedoch etwas anderes.
    „Das ist also tatsächlich Nyék. Wo ist der Bahnhof?“
    Ich deutete in die entsprechende Richtung.
    „Demnach müsste das der Französische Berg sein?“
    „Du hast doch gesagt, du wohnst hier.“
    „Ich habe ein bisschen übertrieben. Hast du etwas zu lesen dabei?“
    Für ihn war es eine Überlebensfrage, immer etwas zu lesen dabeizuhaben. Aber auch ich hatte ein Buch dabei. Ich trug seit über einem halben Jahr einen kleinen, schwarzen Band bei mir. Ich zog ihn halb aus der Tasche, um ihn Gábor zu zeigen. Ich dachte, er würde eine abfällige Bemerkung fallen lassen, weil er ihn für eine Bibel hielt. Er nickte jedoch nur. Er zeigte mir sein Buch ebenfalls und vertiefte sich gleich wieder darin. Mit anderen Worten: Er las einfach weiter. Eine Weile sagte ich mir noch, er suche bestimmt nur eine interessante Passage, die er mir vorlesen wolle. Aber nein: Er las tatsächlich. Als wäre ich gar nicht da. Das war mir zu viel.
    „Meine Schwester ist dir nicht böse“, sagte ich vorwurfsvoll.
    Er blickte auf und suchte einen Augenblick lang in seinen Erinnerungen.
    „Ach ja! Dann ist ja gut“, sagte er, als er das entsprechende Dokument, meine Schwester, gefunden hatte. „Das war ganz schön daneben von mir, was?“
    Ich nickte, und er las weiter, wobei er den ganzen Kopf bewegte, als würde er etwas fortwährend verneinen. Das machte er auch sonst so, der Unterschied war nur, dass er ihn jetzt wesentlich langsamer bewegte, da er auf Englisch las. Es war ein von zwei japanischen Geologen verfasstes Buch über die unterirdischen Gewässer des Karpatenbeckens. Tabaki hatte ihn darum gebeten, sich an die Geräusche zurückzuerinnern, die er in der Hütte in Nyék gehört hatte, da er die Taktformel bräuchte. Gábor hatte dieses Buch ziemlich umständlich aus einer anderen Bibliothek besorgen können, jedoch noch nicht die Zeit gehabt, es zu lesen.
    Das war der Moment, in dem ich am nächsten daran war, ihn stehenzulassen. Plötzlich blickte er jedoch auf.
    „Er lebt noch, oder?“
    Jetzt wusste ich wenigstens, dass er Kornél meinte, nicht Gerda.
    „Woher zum Teufel soll ich das wissen?“
    „Du hast auch keinen sechsten Sinn, stimmt’s?“, fragte er mitfühlend. „Siehst du, genau das ist unser Problem.“
    Ich sah den sich nähernden Bus bereits. Ich sollte nicht mit ihm einsteigen. Ich sollte warten, bis er einstieg, und dann nach Hause gehen. Und am Abend auch nicht zum Ball gehen. Und überhaupt die Arbeit in der Bibliothek schmeißen!
    Der traditionelle Bibliotheksball am Nikolaustag war im Vorjahr wegen des Umzugs ausgefallen. In diesem Jahr sollte er jedoch wieder stattfinden. Die Korvin Bibliothek verfügte über ein hohes Ansehen, jeder, auch Vater, wusste, dass, wenn die wertvollsten Traditionen der Ungarn irgendwo noch bewahrt wurden, dann hier. Die
besten Köpfe
des Landes traf man seit jeher da an. Und dass Patai sich auch hier herumtrieb, schmälerte das Ansehen dieses Ortes nur unerheblich.
    „Ein bedeutendes Ereignis“, hatte Gerda mit einem Hauch Ironie beim Mittagessen am vergangenen Sonntag gesagt. „Ein echter Budapester Snob kann sich das nicht entgehen lassen, da kannst du sagen, was du willst, Tomi. Du musst dabei sein.“
    „Nur unterschreibe ja nichts“, nahm Vater den ironischen Faden auf. „Am Ende landest du noch in irgendeiner Schattenregierung.“
    „Also so oppositionell müsst ihr euch das auch wieder nicht vorstellen“, sagte Gerda, um ihre Worte ein wenig abzumildern und dem zuvorzukommen, dass Vater sich Sorgen um mich machte. „Das ist eine ganz normale Betriebsfeier. Nur kommen eben immer auch viele von außerhalb. Ein Haufen herumhängender Möchtegernintellektueller.“
    „Was meinst du dann mit
bedeutend
?“, fragte Vater, für den der Ausdruck „bedeutendes Ereignis“ stets mit dem Umsturz der bestehenden Staatsordnung in Zusammenhang stand.
    „Aus rockgeschichtlicher Sicht“, erklärte ich Vater mit entsprechend spöttischem Ton, da ich den
Gut Durchbluteten Unterbauch
auch nicht

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