Liebe Unbekannte (German Edition)
fühlte sie sich eben von der wirklich großen Welt angezogen, sie wollte die Heldin großer Geschichten werden, kurz gesagt: eine französische Schauspielerin. Für eine amerikanische Schauspielerin war sie nicht hübsch genug. Aber sie sehnte sich gar nicht nach Amerika, da sie gehört hatte, dass die Menschen dort oberflächlich seien, und über ihren Vater hatte sich inzwischen auch herausgestellt, dass er in Europa geblieben war. Emma las viel und lernte auch fleißig, um sofort fürs Jurastudium zugelassen zu werden, falls sie bis dahin doch keine französische Schauspielerin geworden sein sollte. Denn es war nicht ganz so einfach, Ungarn zu verlassen, wenn es auch mit dem Wandel der Zeit immer weniger unmöglich wurde.
Sie wollte vor allem wegen eines unerfüllbaren Traumes weggehen. Sie hatte vor, einen ganz großen Roman zu schreiben, einen, den zu schreiben unmöglich war. Diesen Traum hegte sie seit ihrem sechsten Lebensjahr und je klüger sie wurde, desto genauer wusste sie, dass es tatsächlich unmöglich war, denn was unmöglich war, war nun einmal unmöglich, weil es eben unmöglich war. Einen Stein erschaffen, den selbst der Schöpfer nicht anheben konnte. Einen historischen Roman, in dem alles enthalten war, der in der heutigen Zeit spielte und früher und in der Zukunft, der lustig war und düster, in dem Liebe vorkam, der jedoch zugleich gnadenlos war und in dem es ein großes Geheimnis gab, das am Ende nicht gelüftet wurde. Als dann der Roman mit dem Titel
Wunderbare Weitschweifigkeit
erschien, wurde Emma endgültig bewusst, dass es unmöglich war, so einen Roman zu schreiben, denn in diesem war alles enthalten: Er spielte heute und früher, war lustig und (nicht sehr) düster, es gab darin Liebe (in Maßen) und Gnadenlosigkeit – nur ein Geheimnis kam darin nicht vor. Emma ahnte, dass es daran lag, dass es kein Geheimnis gab, und das machte sie sehr traurig. Natürlich war sie trotzdem jahrelang in den Autor der
Wunderbaren Weitschweifigkeit
verliebt und schrieb ihm nur deshalb keinen Brief, weil sie seine Adresse nicht kannte und zu stolz war, um diesbezüglich Nachforschungen anzustellen. Und weil sie keine Gans war. Sie kannte jedoch mehrere Seiten der
Wunderbaren Weitschweifigkeit
auswendig und sah auch die Fehler des Romans. Wenn sie ihren Stolz überwunden und die Adresse herausbekommen hätte, hätte sie dem Autor nicht geschrieben, wie sehr sie in ihn verliebt sei, sondern welche Fehler der Roman habe. Sie hätte dem kurzen Brief eine lange, detaillierte Fehlerliste beigefügt. Aus zwei Gründen: Erstens, weil sie sich dadurch für den Autor interessant gemacht hätte, zweitens, weil sie die Fehler der
Wunderbaren Weitschweifigkeit
tatsächlich enorm störten. Unabhängig davon, dass dieses Werk ein Meilenstein der Prosaliteratur war.
Denn es war ein Meilenstein, daran konnte es keinen Zweifel geben, es öffnete in der Prosa neue Wege, verstellte manche alten, erfüllte seine Aufgaben also tadellos, dennoch wusste Emma, dass es Fehler hatte. Und sie hätte dem Autor gerne geholfen, diese zu beseitigen. Sie wollte jedoch nicht so einen Roman schreiben, wie es die
Wunderbare Weitschweifigkeit
war. Sondern einen, den man nicht schreiben konnte. Allgemein nicht konnte, und sie, Emma Olbach, erst recht nicht, auch wenn sie die Autorin der
Wunderbaren Weitschweifigkeit
war! Denn manchmal stellte sie sich vor, dass sie diesen Roman geschrieben hätte und nicht der Autor. Das machte sie vor allem dann, wenn sie gerade besonders verzweifelt war, und dachte, dass sie nicht schreiben könne, weil sie ein untalentierter, grauer Mensch sei. Also oft. In solchen Momenten störte sie sich vielleicht noch mehr an den Fehlern der
Wunderbaren Weitschweifigkeit
, wenn doch wenigstens dieses Buch perfekt wäre! Wenn selbst dieses Fehler hatte, wäre es doch am klügsten, sich zu verstecken, und wenn man sich schon versteckte, konnte man auch eine französische Schauspielerin werden. Diese Gedanken können zu Recht als Träumerei bezeichnet werden, sie hatten jedoch einen konkreten Nutzen, denn Träumen ist gut.
So stand es um Emma (bereits seit einer ganzen Weile), als sie im Alter von sechszehn Jahren, an einem sonnigen Morgen im April, auf dem Boden neben ihrem Bett folgendes Etwas fand.
„Schlechten Abend, Griega.“
„Das wünsche ich dir ebenfalls, Pryzk. Ist schon wieder Frühling?!“
„So ist es. Ich hole jemanden, der uns das Haus auf Vordermann bringt.“
„Hast du den Verstand
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