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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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sagen, dieses Gedicht sei ihr von irgendwem diktiert worden?
    Dabei hatte sie es einer Eingebung folgend niedergeschrieben. Sie würde sich nicht von ihrer Mutter entmutigen lassen.
    Sie ging in ihr Zimmer zurück und schrieb einen Brief an Patai. Dann lief sie damit gleich zur Post.
    Sie stand seit ihrem sechsten Lebensjahr in Briefwechsel mit Patai, wobei sie sich anfangs nicht sonderlich häufig geschrieben hatten: Es hatte über zehn Jahre gedauert, bis sie auf den lakonischen Entschuldigungsbrief antwortete, den Patai ihr im September 1969, als ihr Großvater sie zum letzten Mal in die Bibliothek mitnahm, in die Manteltasche gesteckt hatte. Dieser Brief war eigentlich gar keiner, sondern nur eine Zeichnung, eine Karikatur, auf der Patai sich selbst mit riesigen Eselsohren dargestellt hatte, um sich auf diese Art bei Emma dafür zu entschuldigen, dass er ihr so einen Schrecken eingejagt hatte. Die Antwort, die sie ihm zehn Jahre später schickte, bestand aus sechs Gedichten (denn Gedichte hatte sie, wie jeder gesunde Teenager, bereits vor dem
Etwas
geschrieben) und zwei Bitten: Sie wolle seine ehrliche Meinung hören und er solle seine Antwort ohne Angabe des Absenders schicken. (Emma befürchtete, ihre Mutter könne den Brief in die Hände bekommen. Edit Perbáli hätte normalerweise nie das Briefgeheimnis verletzt, es war jedoch nicht auszuschließen, dass sie bei Patais Brief eine Ausnahme gemacht hätte.) Patais Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Die Gedichte seien grässlich, wenn es der werten Dichterin jedoch nur darauf ankäme, könne er dafür sorgen, dass sie in einer Zeitschrift publiziert werden würden. Die werte Dichterin verzweifelte ob dieser Worte und antwortete Patai wieder monatelang nicht. Bis zu diesem Tag.
    Jetzt war die Zeit für die selbstbewusste Antwort gekommen! Emma war von diesem Morgen an kein herumkritzelndes junges Mädchen mehr, sondern im Grunde Patai ebenbürtig. Es war nicht zu leugnen, Emma wurde von ihrem Gedicht binnen weniger Minuten eingebildet, um nicht zu sagen selbstherrlich, gleichzeitig hatte sie Angst vor dem Moment, in dem sie Patai das
Etwas
in die Hand drücken würde. Was, wenn er sagen würde, es sei unter aller Kritik und sie solle mehr László Nagy lesen? Dann stärkte sie sich innerlich und schrieb Patai einen frechen (aber netten) Brief: Sie würde sich bei Gelegenheit gerne mit ihm über die wesentlichen Dinge der Welt unterhalten. Sie halte jeden Montag zwischen sechzehn und siebzehn Uhr Sprechstunde in ihrem Stammcafé, dem
New York
. Außerdem seien kürzlich auch neue Werke entstanden … So kündigte sie ihm, mit andeutungsreicher Selbstironie, das
Etwas
an, ohne es aber beizulegen.
    Das mit der Sprechstunde stimmte natürlich nicht, es war nur ein spontaner Einfall gewesen, allerdings entsprach es den Tatsachen, dass sie zu dieser Zeit oft allein in irgendwelchen Vorstadtcafés saß. Sie konnte einen ganzen Nachmittag mit einem einzigen Kaffee dasitzen, wobei sie stets verkleidet war. Sie verkleidete sich auf verschiedenste Art, setzte die Maske der schönen Frau auf, der Hässlichen, der Ernsten, der Fröhlichen, der Fünfzigjährigen, der Zigeunerin, ja, häufig verkleidete sie sich auch als Junge mit Brille, weil dann niemand etwas von ihr wollte. Sie lernte, las und beobachtete die Leute. Sie hatte Zeit. Ihre Nachmittage waren, abgesehen von ein oder zwei Privatstunden, frei. Die Gesellschaft von Gleichaltrigen suchte sie nicht. Verlieben wollte sie sich in Paris, nicht hier. Aber dort richtig! Die Liebe ihres Lebens in der Metro erblicken und an Ort und Stelle, vor aller Augen, übereinander herfallen, solle doch weggucken, wer es sich nicht ansehen wollte!
    Nun, daraus würde jetzt, da das
Etwas
aus dem Himmel in ihr Heft gefallen war, nichts mehr werden. Aber egal.
    Sie war zufrieden mit dem Brief. Deshalb war es gut, eine Frau zu sein. Zu so einem dreisten, aber bezaubernden Brief könne Patai einfach nicht nein sagen, dachte sie, während sie ihn auf der Post aufgab.
    Patai wollte nicht zu Emmas Sprechstunde gehen, weil das
Hungária
(so hieß das
New York
gerade) von zu vielen alten Bekannten besucht wurde, wobei ihre Zahl rapide abnahm, da sie vom Alkohol, Kettenrauchen, von ihren kleinen, großen, ja, zuweilen fürchterlichen Geheimnissen und der allgemeinen Leere vorzeitig hingerafft wurden. Nach kurzem Zögern schrieb er Emma schließlich, dass ihm dort zu viele alte Bekannte seien. Wenn die werte Dichterin jedoch noch einige

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