Liebe Unbekannte (German Edition)
sondern Széles, die Mädels vom großen Lesesaal haben gesagt, sie hätten sie heraufkommen sehen.“
Emőke Széles kroch in die Decke gewickelt aus dem Bett und lief zur Tür.
„Tabaki, soll das ein Scherz sein? Es ist doch nicht dein Ernst, dass ich den Text jetzt lernen soll?“
„Wieso? Du hast dafür noch ungefähr sechs Stunden. Ich habe auch noch keine Musik dazu geschrieben.“
Emőke Széles war die Sängerin der künftigen Band
Nimmermehr
, ihre an einen Raben erinnernde Stimme hatte Tabaki erst auf die ganze Poe-Thematik gebracht.
Auch wenn er nicht den Eindruck erweckte, war Tabaki ein echter Künstler und stach dadurch sowohl aus der Gruppe der Menschen, die die künftige Band
Nimmermehr
umgaben, als auch aus Patais Sammlung junger Leute hervor. Es gab eine gewisse Überschneidung zwischen den beiden Gruppen, wobei sie jedoch nicht ganz identisch waren, wenn auch der oberflächliche Betrachter, also zum Beispiel die Bibliothek, in ihnen ein und dieselbe grässliche Bagage sah. Die
Nimmermehrler
wurden durch eine vage künstlerische Ambition über die anderen erhoben, welche sich durch den vollkommenen Mangel an Ambition von den
Nimmermehrlern
unterschieden. Tabaki war jedoch ein echter Künstler. Für ihn stand die Kunst über allem, vor allem, wenn ihm so wenig Zeit für sie zur Verfügung stand wie jetzt.
„Ich hatte gestern Abend einen Geistesblitz und weiß jetzt, was ich machen muss. Aber wenigstens hat sich inzwischen ein Name für die Band gefunden:
Nimmermehr
. Das ist gut, nicht? Du musst mich jetzt nicht loben, dafür fehlt uns die Zeit. Zieh dich an und vertiefe dich in den Text.“
„Der ist ja völlig irre“, sagte Emőke Széles und lachte. „Ich werde mein Kind jetzt übrigens doch bekommen.“
„Das ist klasse“, erwiderte Tabaki als Reaktion auf diese Wendung des Schicksals und nutzte die Lage zu seinen Gunsten. „Hör mal: Demnach geht es dir ja wieder gut, du bist völlig genesen. Seelische Probleme, weibliche Schmerzen und so, alles vorbei?“
„Hm“, sagte Emőke Széles stolz. „Alles Vergangenheit.“
„Ab jetzt seid ihr so richtig eine Familie? Ruhiges Leben und lauter kleinbürgerliches Zeug?“
„So ist es“, sagte Emőke und grinste.
„Das ist allein schon deshalb gut, weil ich dann in zehn Minuten wieder hier bin, zusammen mit dem Brüll, wir bringen eine Gitarre und den
Casio
mit, bis heute Mittag haben wir die Songs dann fertig. Es sind übrigens drei, ich habe sie nur auf einen Zettel geschrieben. Guck dir zuerst die
Todesentzündung
an. Und du könntest deiner Frau ruhig sagen, dass sie aufhören soll zu nerven. Wir haben zu tun.“
Kornél stand nur da und grinste. Dann lehnte er sich an die Wand und rutschte hinunter.
Er kam erst am Abend auf dem Bibliotheksball vorübergehend wieder zu sich. Als Emma mit ihm Schluss machte. Sie zog ihn in eine Ecke und ratterte ihm herunter, dass sie ab jetzt keine
seelische Mutter
mehr für ihn sei, da Kornél aus dem Alter des
seelischen Kindes
herausgewachsen sei, und sie nicht die
seelische Großmutter
von Kornéls physischem Kind zu sein gedenke, und sie ihm im Übrigen ein glückliches Leben wünsche. Kornél nickte ernst und bat Emma nicht, sich doch ab und zu mit ihm zu treffen. Er sagte lediglich, dass, falls Emma es sich anders überlegen sollte, egal wann, heute oder in zwanzig Jahren, sie nur nach ihm rufen solle und er alles und jeden stehen und liegen lassen werde, Emőke, Kind, neue Frau, Geliebte, Enkel, wirklich jeden, da Emma die Liebe seines Lebens sei. Das musste er sagen, erstens, weil er in diesem Augenblick so dachte, zweitens, weil Emma, wie jede Frau, eine einstige, große, unerfüllte Liebe sein sollte, von der sich der Mann mit so einem Versprechen verabschiedete, dass sie es ein Leben lang würde glauben können. Das wusste Kornél selbst in halb vergiftetem Zustand.
Viele Jahre später, wenn Emma mir etwas richtig Gemeines an den Kopf werfen wollte, und das wollte sie oft, denn unser Leben war lange eine Hölle, sagte sie stets, dass vielleicht doch nicht ich die wirklich große Liebe ihres Lebens gewesen sei, sondern Kornél, und wenn es diese blöde Abtreibungsgeschichte nicht gegeben hätte, würde sie heute (also viele Jahre später) vielleicht ein glückliches Leben mit ihm führen und ihm das Gleiche über mich sagen.
16.
DER VERIRRTE REITER
Bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr wollte Emma in den Westen ziehen, nicht weil sie ihre Heimat nicht geliebt hätte, nur
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