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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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war sie immer noch dabei, wach zu werden. Erschrocken lief sie in ihr Zimmer zurück, um zu überprüfen, ob die vollgeschriebene Seite noch in ihrem Heft war. Sie war noch da. Sie setzte sich aufs Bett, nahm das Heft.
    Dann las sie es. Dreimal.
    Und dann wurde ihr schwer ums Herz. Zuerst wusste sie nicht, weswegen. Sie las das Gedicht noch einmal und noch einmal, denn dieses
Etwas
war ja doch am ehesten ein Gedicht, und sie verbesserte ein paar Kommafehler darin, ansonsten wollte sie jedoch nichts daran ändern, weil es ihr von irgendwo genauso diktiert worden war, wie es hier stand, aber ihr war schwer ums Herz.
    Sie wusste, dass sie jetzt eine Auserwählte geworden war, denn von sich aus wäre ihr nie so etwas wie
vom Teufel vollgeschissen
und
aus deinen Knochen kommen keine Tränen
eingefallen, das war ein Wunder! Und natürlich überkam sie sofort die Angst, dass es sich nur um einen Zufall gehandelt hatte und nie wieder vorkommen würde. Das war aber auch nicht schlimm, sie spürte nämlich auch, dass diese Angst es wert war, denn es hatte sich herausgestellt, dass sie ein Genie war. Jetzt war sie es vielleicht nicht, aber in der Nacht war sie es mit Sicherheit gewesen! Also würde sie es jederzeit wieder sein können. Und von nun an würde sie stets darum bangen müssen, ob sie denn noch immer ein Genie war. Aber was soll’s, wenn interessierte das? Das, was mit ihr geschehen war, war das alles wert.
    Jesus!, dachte sie zur Abwechslung und musste laut über sich selbst lachen. Lachen, weil ihr die Augen vor Freude darüber, dass sie ein Genie geworden war, feucht wurden. Und weil sie an ihrem Lachen hörte, dass sie bereits begonnen hatte, sich affektiert zu benehmen: Sie übte sich offenbar an einem nervtötenden Genielachen. Sie sah ihre Augen im Spiegel an. Diese waren tatsächlich feucht geworden. Wieder musste sie lachen. Sie wischte sich die Tränen ab und warf nun einen objektiven Blick auf das Gedicht, oder was es war.
    Sie las es dreimal durch, es lief ihr wieder eiskalt den Rücken hinunter, sie ließ alles so stehen, fügte nicht einmal ein
g
in
Avinon
ein, sie sah erneut, was sie bisher auch schon gesehen hatte: das Gedicht war schlecht, aber es war genial. Auch objektiv betrachtet. Tausenderlei war darin enthalten, Geschichten, Fäden, die halbe Welt, zwar auf eine blöde und verworrene Art, aber alles, was wichtig war, steckte darin. Emma konnte über jede Zeile sagen, weshalb sie da stand, was sich worauf bezog, was nicht da stand und weshalb. Und erst jetzt merkte sie, dass es ihr trotz allem immer noch schwer ums Herz war.
    Dann erkannte sie langsam und in umgekehrter Reihenfolge die Gründe dafür. Zuerst fiel ihr ein, dass sie irgendwann einmal, vor Urzeiten, am vergangenen Abend, eine französische Schauspielerin hatte werden wollen, die Heldin großer Geschichten, und gen Westen ziehen wollte, in die große, weite Welt. Dies war jedoch von nun an nicht mehr möglich, dieser Weg war ihr plötzlich verschlossen, sie musste hier bleiben, da sie offenbar eine ungarische Dichterin werden würde, und zwar eine geniale, große ungarische Dichterin, und aus eben diesem Grund war ihr so schwer ums Herz. Einen Roman könnte sie ja vielleicht noch in einer anderen Sprache schreiben, aber ein Gedicht niemals.
    Was sollte sie jetzt machen?
    Sie ging in den Flur. Sie musste das Gedicht jemandem zeigen. Das
Etwas
.
    Ihre Mutter schlief, zumindest war die Tür zu ihrem Zimmer geschlossen. Wahrscheinlich war jemand bei ihr. Das war auch besser so: Ihre Mutter würde nur die Nase rümpfen. Nicht, dass Edit Perbáli keinen Respekt vor Dichtern gehabt hätte, im Gegenteil, sie hatte so großen Respekt vor ihnen, wie jene Frauen im 19. Jahrhundert, die mit ihrem Schwärmen den einfachen Leuten die Lust an den Dichtern geraubt hatten. Nach Edit Perbális Meinung durften nur Männer Gedichte schreiben. Das war ein Grund, weshalb es sich nicht lohnte, ihr das
Etwas
zu zeigen, der andere war, dass die Umstände der Entstehung des
Etwas
nahezu übernatürlich gewesen waren, und Edit Perbáli an nichts Übernatürliches glaubte, mit Ausnahme von der Moral. Und wegen der Moral glaubte sie mehr oder weniger ans Böse. Besser gesagt, eher so allgemein an die menschliche Bosheit. An etwas anderes glaubte sie nicht. Wenn die Sprache zum Beispiel auf Gott kam, lächelte sie nur bitter, als wollte sie sagen: „Habe ich nicht gleich gesagt, dass das dabei herauskommen würde?“
    Und da sollte Emma jetzt zu ihr gehen und

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