Liebe Unbekannte (German Edition)
verloren, Pryzk? Du kannst doch gar nicht laufen. Du zerfällst unterwegs, du Gerippe!“
„Um mich musst du dich nicht sorgen, du Dörrling. Wenn es sein muss, geh ich, wohin ich will.“
„Alter, schwachköpfiger Pryzk! Das Haus gehört dir doch gar nicht mehr. Die Elenden haben es dir genommen.“
„Haben sie, ja, haben sie. Aber sie kümmern sich nicht darum. Das Dach ist bestimmt schon eingestürzt.“
„Das Dach?! Ach, Pryzk, das Dach haben sie doch abgebrannt.“
„Und wenn schon. Was zählt, ist, dass die Wände noch stehen.“
„Ja, die stehen. Aber mit einem Fluch belegt und vom Teufel vollgeschissen.“
„Und wenn schon. Das ist doch lange her. Kein Lebender erinnert sich mehr daran.“
„Ich erinnere mich, Pryzk. Ich musste in dem Haus verbrennen, wegen dir.“
„Es war eine Rauchvergiftung, Griega, wie oft soll ich dir das noch sagen?“
„Du sagst das seit siebenundsiebzig Jahren, immer und immer wieder.“
„Seit sechshundert Jahren, Griega, es werden bald sechshundert Jahre.“
„Ich war die schönste Frau weit und breit.“
„Genau deshalb solltest du den Mund halten. Habe ich das nicht immer gesagt?“
„Aber deinetwegen ist alles so gekommen, Pryzk, nicht meinetwegen.“
„Meinetwegen, meinetwegen! Hatte ich auf dem Schafott etwa mehr Spaß?“
„Du liebtest mich zu sehr, deinetwegen quietschte das Bett so laut.“
„Und du konntest deinen Mund nicht halten, Griega, du konntest ihn noch nie halten.“
„Und du hast meinen Mann mit der Axt erschlagen, statt zu fliehen.“
„Und du hast gekreischt, alle geweckt.“
„Und du hast mir nicht stark genug auf den Mund geschlagen.“
„Ist das die einzige Sprache, die du verstehst: Wenn man dir auf den Mund schlägt?“
„Ja, es ist die einzige, Pryzk, du weißt, dass es die einzige ist.“
„Heule jetzt nicht, es kommen ohnehin keine Tränen aus deinen Knochen.“
„Ich heule nicht, es kommen ohnehin keine Tränen aus meinen Knochen.“
„Hörst du es?“
„Ich höre es, Pryzk, ich höre es.“
„Sie kommen zu viert, sind auf dem Weg zum Hafen von Avinon.“
„Ja, vier Reiter sind es. Die ersten Reisenden des Jahres.“
„Dann gehe ich jetzt, altes Knochengerüst, hol mir mein Haus zurück.“
„Ach was, Pryzk, du holst dir das Haus nie zurück.“
„Aber sie werden hier an uns vorbeireiten.“
„Na und, warum bleibst du nicht einfach hier im Grab?“
„Ich ergreife einen Huf und lasse mich herausziehen.“
„Geh nur, alter Knochen, im Frühling hältst du es im Grab nie aus.“
„Ja, ich gehe, im Frühling halte ich es im Grab nie aus.“
„Geh nur, alter Knochen, geh, im Frühling hast du es im Grab noch nie ausgehalten.“
Dieses
Etwas
fand Emma neben ihrem Bett. Es stand in ihrem Gedichtheft, mit ihrer eigenen Handschrift. Ihr Stift lag daneben auf dem Boden, etwas weiter weg. Sie wurde ganz blass. Sie sah den Text an, las einige Zeilen, traute sich dann aber nicht weiterzulesen. Was war das?
Mein Gott!, dachte sie, Du lieber Gott. War es möglich?
Vielleicht … Aber sie traute sich nicht, sich zu freuen. Sie schlug das Heft zu, um es gar nicht lesen zu können. Sie hatte das Heft und den Stift stets neben dem Bett liegen, damit sie beim Aufwachen gleich aufschreiben konnte, was sie geträumt hatte. Diesmal konnte sie sich jedoch nicht daran erinnern, in der Nacht aufgewacht zu sein. Schlief sie möglicherweise immer noch? Ja, vielleicht war sie noch nicht ganz erwacht, sie musste sehr tief geschlafen haben. Was war in der Nacht geschehen? Sie sprang auf und versuchte, im Stehen aufzuwachen. Dadurch kam ihr gleich eine vage Erinnerung: Ja, sie war wach geworden und hatte fiebrig im Halbschlaf etwas geschrieben. Aber dieses Bild war zu verschwommen, nicht so, wie man sich normalerweise erinnert. Aber was war dann mit ihr geschehen? Jetzt sah sie, dass es sogar einen Beweis gab: Die Leselampe brannte. Man bemerkte es nur kaum, da die Sonne dahin schien. Sie ging schnell hinaus, um sich die Zähne zu putzen und zu pinkeln.
Mein Gott, dachte sie auf der Toilette. Mein Gott, mein Gott, ich darf mich nicht freuen, ich darf mich nicht freuen, ich darf mich nicht freuen.
Mehr Worte als diese wollte sie nicht einmal denken. Sie fragte sich lieber, wie spät es wohl sein mochte. Es war Vormittag. Sie war also nicht in die Schule gegangen. Beim Zähneputzen fiel ihr ein, dass Frühjahrsferien waren. Es war also gar keine Schule. Stück für Stück setzte sich das Bild zusammen. Also
Weitere Kostenlose Bücher