Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
Vom Netzwerk:
Jahre warten könne, würden sie aussterben. Oder sie solle einen diskreteren Treffpunkt vorschlagen.
    Und an diesem Punkt kam der Briefwechsel wieder ins Stocken. Für Jahre.
    Denn als sie von der Post nach Hause kam, war ihre Mutter bereits wach, und Emma konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihr das
Etwas
zu zeigen. Komme, was wolle. Sie gab den Zettel, auf den sie es abgeschrieben hatte, ihrer Mutter, die mit viel größerer Begeisterung reagierte, als Emma es erwartet hätte. Sie las es und konnte eine ganze Weile gar nichts sagen.
    „Du wirst es nicht einfach haben“, sagte sie, seufzte und betrachtete ihre Tochter stolz, als würde sie sie zum ersten Mal sehen. Denn nun hatte sich entschieden, dass Emma ihr gesamtes Leben lang unglücklich sein würde, aber die Sache sei es wert, denn es lohne sich einzig und allein, ein Genie zu sein oder eine Kranke pflegende Ordensschwester. Sie wollte das Gedicht sofort an die
Új Írás
schicken, aber Emma brachte sie davon ab: Sie sagte, es stecke voller Fehler. Sie müsse noch daran arbeiten, im Augenblick sei nur wichtig, dass es überhaupt entstanden sei.
    Edit Perbáli betrachtete ihre Tochter von da an mit wehmütiger Bewunderung, als sehe sie die Künstlerin in ihr schlummern, und das war keineswegs ein unangenehmes Gefühl für Emma. Im Gegenteil. Sie gab sich mit der Bewunderung ihrer Mutter zufrieden. Sie benötigte keinerlei fachliche Meinung. Als sie dann einige Tage später Patais etwas widerwillige Antwort erhielt, war ihre Anfangseuphorie bereits verklungen. Du kannst mich mal, Patai, dachte sie und antwortete nicht. Es vergingen noch viele Jahre, bis sie ihm erneut einen Brief schickte (den dritten und zugleich letzten), in dem sie einen diskreteren Treffpunkt als das Café
New York
vorschlug.
    Von diesem Morgen an war Emma wie ausgewechselt. Sie hatte nun eine Berufung, war eine Dichterin, hatte eine Bestimmung in der Welt und im Grunde betrachtete sie auch den Roman, den man nicht schreiben konnte als vollendet, es war ja nur eine Frage der Zeit. Wenn sie manchmal dennoch Zweifel befielen, genügte es, an das im morgendlichen Sonnenschein auf dem Boden liegende Gedichtheft und den etwas weiter entfernten Stift im Schatten zu denken. Dieser Gedanke machte sie noch Monate später glücklich und zu einem Genie.
    Und die Jahre vergingen.
    Als Emőke Széles und sie im
Faktotum
die Sachen in die Tasche zurückpackten, sah Emma plötzlich das Gedichtheft, den Sonnenschein und den Stift. Dabei wollte sie es diesmal gar nicht. Gleichzeitig sah sie aber auch den Innenraum des
Faktotums
, die Séparées im Halbdunkel.
    Sie wusste, was das war: ein Erinnerungsanfall, wie sie zu Emőke Széles gesagt hatte. Jetzt würde es zwanzig Minuten lang schlimm sein. Es begann damit, dass man zwei Dinge gleichzeitig sah. Das hätte auch spannend sein können, in Wirklichkeit war es jedoch eher erschreckend. Das Furchtbare daran war, dass es zwei Realitäten gleichzeitig gab und das bedeutete, dass es unzählig viele geben konnte und wenn es unzählig viele gab, gab es keine einzige, dann gab es nur das Nichts, den Tod. Der Tod ist das einzig Sichere – das ist es, was man in so einem Moment erlebt. Das ist kein sonderlich gutes Gefühl. Eher ein grauenvolles. Aber es geht schnell vorüber. Die zweite Realität löst sich auf, wie ein Würfelzucker, und es bleibt die eine. Hoffentlich würde die Kneipe namens
Faktotum
bleiben und die andere verschwinden.
    Sie hatte noch ein halbes Glas Bier. Das starrte sie nun an, schloss dann die Augen.
    Sie sah, wie die Sonne auf ihr Gedichtheft schien, jedoch nicht auf den Stift, denn dieser lag ja weiter weg, bereits im Schatten.
    Dieser Schatten. Wie kam dieser Schatten dorthin? Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Schatten. Ebenso wie mit dem Sonnenschein auf dem Gedichtheft. Morgens schien die Sonne ja nie in die Wohnung in der Tűzoltó Straße! Morgens hatte sie nur in die Wohnung in der Őrnagy Straße geschienen.
    Das war jedoch noch in Szombathely gewesen. Dort hatten sie früher gewohnt. Sie hatten die Hauptstadt für Jahre verlassen und ihre Mutter hatte immer verbrauchtere Gestalten als Liebhaber, einen dem Alkohol verfallenen Kulturhausleiter, einen verkannten Schauspieler, einen entlassenen Polizeikommissar, ja, sogar einen echten Matrosen, zu dem nur das Meer fehlte, er war mit dem Zug zu seinem Scheidungsprozess gekommen, mit anderen Worten, jeden, bei dem Edit Perbáli das tragische Element spürte.
    War es möglich,

Weitere Kostenlose Bücher