Liebe Unbekannte (German Edition)
Tatsache konfrontiert, dass diese keinen Ort hatten, wo sie hätten wohnen können. Ihre Wohnung war nämlich vermietet. Noch für ein halbes Jahr im Voraus. Also musste er sie für dieses halbe Jahr in der Psychiatrie lassen. Er schämte sich vor dem jungen namenlosen Psy chiater, da er das Wort
Hospiz
ausgesprochen, dann jedoch nichts unternommen hatte. Allein schon deshalb freute er sich nicht, ihn hier anzutreffen.
Später kam es oft zu öffentlichen Kämpfen zwischen den beiden. Sie standen sich in Fernsehdebatten gegenüber, schrieben sich in den Wochenendbeilagen verschiedener Zeitungen offene Briefe, der ehemalige junge namenlose Psychiater bereits als namhafter Fachmann des Gesundheitswesens, ein Politiker aus dem Bereich der Medizin, eine Zeit lang sogar Minister, und Kornél als lebendes Gewissen Mitteleuropas (was auch immer das bedeuten mochte, in erster Linie aber doch vor allem Schriftsteller); meist hatte Kornél recht, den Sieg trug jedoch meist der junge namenlose Psychiater davon.
„Kommst du oder bleibst du?“, fragte der junge namenlose Psychiater Emma. „Oder beides?“
„Keins von beiden“, wollte ihm Emma lässig entgegnen, sie konnte jedoch keinen Ton herausbringen und ging daher mit.
Niemand ermutigte sie zu bleiben. Sogar Kornél spürte, dass es besser sein würde, wenn Emma jetzt mit dem jungen namenlosen Psychiater mitging. Emőke begleitete die beiden zur Tür und zwinkerte ihr zu.
„Bleibt anständig!“, sagte sie, womit sie Emma dem jungen namenlosen Psychiater förmlich als Beute übergab, was diese auch nicht weiter störte, Kornél missbilligte diese Bemerkung jedoch sehr.
„Du verhältst dich ja wie eine Kupplerin!“
Das war also das oft erwähnte Treffen zwischen Emma und Kornél. So eindrucksvoll, wie Gábor es sich vorstellte, war die Szene nicht. Kornél hatte es in seiner Erzählung nämlich mit einigen romantischen Elementen ausgeschmückt, die in Wirklichkeit nicht vorgekommen waren. Emma und er waren sich nicht zu zweit auf der Straße im Regen begegnet, sondern sie waren zu viert, an einem vom Regen geschützten Ort: in der Küche von Emőke Széles. Und es war auch nicht das erste Mal, dass sie sich getroffen hatten. Und es waren insgesamt nur acht rote Punkte.
Emma und der junge namenlose Psychiater blieben anständig.
„Den Auftakt haben wir nicht besonders gut hinbekommen“, sagte er, bereits auf der Straße. „Was hälst du davon, noch einmal von vorn zu beginnen?“
Emma zuckte die Schultern.
„Dann fang an.“
„Gut. Was ist es für ein Gefühl, die Enkelin des größten lebenden ungarischen Essayisten zu sein?“
Emma war überrascht. Die Enkelin des größten lebenden ungarischen Essayisten zu sein, war mit gemischten Gefühlen verbunden, bisher hatte sie jedoch noch nie jemand danach gefragt. Woher wusste der junge namenlose Psychiater das? Hatte er sich ihren Namen gemerkt? Hatten sie sich denn überhaupt einander vorgestellt?
„Kann man ihn deiner Meinung nach als lebend bezeichnen?“, fragte sie schließlich verdutzt. Fast schon empört.
„Wieso, ist er gestorben?“
„Nein, aber … Hast du etwas von ihm gelesen?“
„Den
Aufstieg des Morgenlandes
. Die Originalausgabe, in Kopie! Also die noch nicht kastrierte Version.“
„Das ist nicht dein Ernst“, sagte Emma, immer noch etwas feindschaftlich.
„Ehrenwort. Das gehörte an der Uni zum Lehrstoff. Es gab fünf fotokopierte Exemplare, die wir einander vor den Prüfungen weitergaben.“
„Du hast eine Prüfung darüber gehabt?!“
„Du hältst ja nicht besonders viel von deinem Großvater. Er wurde mit Jung in einem Atemzug genannt, wenn du es genau wissen willst. Kollektives Unbewusstes und so. Hm? Glaubst du mir nicht?“
„Und wie kommst du darauf, dass ich seine Enkelin bin?“
„Nun, du könntest auch seine Tochter sein“, erwiderte der junge namenlose Psychiater. „Wenn es sich um einen ausreichend freizügigen Mann handelt …“
Nun glaubte ihm Emma endlich. Sie konnte es kaum erwarten, die große Nachricht ihren Großeltern zu erzählen: Die Studenten der Medizinischen Fakultät lasen Großvaters Werk in Fotokopie. Sie hatten es verdient, sich endlich mal ein bisschen zu freuen.
Dann erzählte sie es ihnen doch nicht, denn irgendwie verging ganz unerwartet ein halbes Jahr, es gibt diese tückischen halben Jahre, die einen aus dem Hinterhalt überfallen. Sie schleichen um einen herum, lauern einem auf, warten nur auf den geeigneten Augenblick, und
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