Liebe Unbekannte (German Edition)
plötzlich sprach Emmas Großmutter auf ihrem Sterbebett die letzten Worte.
„Endre, ich möchte kein großes Begräbnis. Lasst mich bitte einäschern. Und außer der Familie soll niemand anwesend sein.“
„Außer der Familie wird niemand da sein“, sagte Onkel Olbach mürrisch. „Zumindest solange ich lebe.“
Damit wollte er sagen, dass Mara ihn überleben würde.
„Komm, sei kein Kindskopf, dafür haben wir keine Zeit. Ich bitte dich jetzt, mir zuzuhören und dir gut zu merken, was ich sage. Womöglich werde ich bald wirres Zeug reden, aber du sollst nur das ernst nehmen, was ich dir jetzt sage.“
„Ich werde das Tagebuch nicht verbrennen!“
„Ich spreche nicht vom Tagebuch. Sondern … Hörst du mir zu?“
„Ich höre dir zu, Mara, sag, was du sagen willst. Danach erzähle ich dir auch etwas.“
„Liebster“, sagte Mara, „ich bitte dich, hör mir zu.“
Und Onkel Olbach hörte ihr zu.
„Mein Leben war gut und schön, so wie es war. Es war mit dir so, dich habe ich mein ganzes Leben lang geliebt. So ist es auch jetzt und so wird es auch bleiben. Merk dir das bitte gut, daran sollst du immer denken.“
„Ja, gut. Daran werde ich immer denken.“
„Aber an genau das, was ich jetzt in diesem Augenblick sage.“
„An genau das werde ich denken, Mara. Kann ich dann vielleicht auch irgendwann zu Wort kommen?“
„Jetzt möchte ich noch etwas sagen.“
„Wie immer“, sagte Onkel Olbach mit einem Lächeln, als würde er auch dadurch unterstreichen wollen, dass Mara noch nicht sterben würde. „Na, dann sprich.“
„Endre, mein Leben hatte keinen Sinn.“
Das war es, was Onkel Olbach befürchtet hatte, er hatte nur nicht gedacht, dass sie es aussprechen würde.
„Dafür kannst du aber nichts“, fuhr Mara fort. „Einzig und allein ich kann etwas dafür. Ich war einfach faul.“
Onkel Olbach dachte, das sei eine Anspielung auf den
Aufstieg des Morgenlandes
. Dass sie ihn nicht ausreichend angetrieben hatte, weshalb das Werk nun für immer unvollendet bleiben würde.
„Ja, ja, das haben wir alles schon gehört“, sagte Onkel Olbach gereizt. „Ich habe dir auch schon oft gesagt, was ich darüber denke. Wir werden uns an die Arbeit machen, sobald du wieder gesund bist. Wir werden die Manuskripte ordnen. Ich diktiere, du schreibst.“
„Ich möchte alles verscharren. Wie eine Katze. Ich will nicht, dass nach meinem Tod etwas von mir bleibt.“
„Das verstehe ich gar nicht.“
„Ihr sollt mich einäschern lassen.“
„Das hast du schon gesagt. Worauf willst du hinaus? Emmalein, geh bitte hinaus. Deine Großmutter und ich werden uns jetzt streiten.“
„Emma versteht es. Nur du verstehst es nicht, Endre.“
Emma verstand es auch nicht. Aber sie wusste, worum es ging, ihre Großmutter hatte ihr oft gesagt, sie solle aufpassen, denn sie beide seien sich ähnlich. Zuerst wollte sie nicht hinausgehen, aber dann dachte sie daran, dass man im Flur ungestört weinen konnte. Dabei ahnte sie, dass sie nicht weinen würde, vielleicht nie wieder, da sie seit Mai nicht mehr geweint hatte. Damals hatte sie sich ausgeweint, womöglich für immer.
„Ich verstehe es, Großvater“, log sie also, „gehe aber trotzdem hinaus. Streitet euch schön.“
Emma ging hinaus. Zwei Tage später, als das Gespräch zwischen Onkel Olbach und Tante Mara wieder an diesem Punkt angelangt war, lächelte diese stolz. Ihr Bewusstsein kehrte von da an nie wieder völlig zurück, und bald verschwanden ihre Schmerzen selbst durch die Schmerzmittel nicht mehr ganz. Sie begann zusammenhanglos zu reden, aber der Schwung ihrer Worte war ungebrochen.
„Du glaubst, dass ich faul gewesen bin. Dabei bin ich nicht faul gewesen, Endre. Ich habe heimlich Tagebuch geschrieben!“
„Tatsächlich?“, fragte Onkel Olbach und warf Emma einen hilfesuchenden Blick zu, da Tante Mara ein halbes Jahrhundert lang Tagebuch geschrieben hatte, und die Hefte beinah einen Doppelzentner wogen.
„Weißt du gar nicht mehr, dass ich Tagebuch geschrieben habe?“
„Natürlich weiß ich das noch, Mara. Wie zum Teufel hätte ich das vergessen können!“
„Du glaubst mir nicht. Dabei lag es immer unter meinem Bett. Ich habe es vor dir versteckt. Ich wollte mich mit dir messen. Und du hast mich nicht in die Bibliothek gelassen.“
„Du wolltest nicht dorthin.“
„Aber das war nicht schlimm. Denn die Bibliothek kam ja zu mir.“
Mara bedeutete ihm, sich zu ihr zu beugen und strich ihm über den Kopf, um zu zeigen, wo sich
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