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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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weshalb er es gar nicht erwarten konnte, seine Schuhe auszuziehen. Er setzte sich also in Strümpfen an den Schreibtisch und streckte die Beine aus, direkt unter Emőke Széles’ Nase, die auf der anderen Seite des Schreibtisches saß. Zu Beginn der Stunde kam die Frau des Lehrers ins Zimmer, stellte Kuchen auf den Tisch und ging wieder hinaus. Wenn es um Kirschkuchen gehe, schaffe es selbst der strengste Fußgeruch der Welt nicht, ihr den Magen umzudrehen, erzählte sie stolz, in der dritten Französischstunde habe es jedoch Käsepogatschen gegeben, und das habe das Fass zum Überlaufen gebracht. Sie habe sich, als sie in das Gebäck biss, die Nase zugehalten. Als der Lehrer sie nach dem Grund fragte, habe sie ehrlich geantwortet: „Ich halte den Käsegeruch nicht aus.“ Und da habe sie dem Impuls nicht widerstehen können, sich unter den Tisch zu beugen und zu schnüffeln.
    „Du hast wirklich eine Macke“, sagten die anderen und lachten. Sie mochten Emőke Széles.
    „Wir hatten denselben Lehrer!“, rief Emma, die bis zu dem Zeitpunkt demonstrativ gelesen und der Geschichte nur nebenbei zugehört hatte. Sie hatte ihrer Mutter bereits nach der ersten Stunde gestanden, dass sie den Fußgeruch des Lehrers nicht ertrage. Edit Perbáli war mit diesem Phänomen nicht vertraut, dabei hatte sie auch privaten Sprachunterricht gehabt, das war jedoch bereits über zwanzig Jahre her, kurz nach der Mitte des Jahrhunderts. Das war noch eine andere Welt. Ihr betagter Französischlehrer hatte sich stets in Schuhen an den Schreibtisch gesetzt. In stark abgenutzten, jedoch auf Hochglanz polierten schwarzen Halbschuhen. Und in einem alten, jedoch makellosen Anzug. Und mit Fliege. Dieser alte Herr gehörte zu einer anderen Zeit. Edit Perbáli hatte also ein anderes Bild von einem Französischlehrer. Sie sagte, „In Ordnung, dann suchen wir einen neuen Lehrer“. Das tat sie auch, diesmal war es eine Frau, das Ergebnis blieb jedoch das gleiche: Fußgeruch. Edit hatte leider keinen Humor, der ihr hätte helfen können, diese tragikomische Lage zu überwinden, und als Emma auch nach der nächsten Französischstunde erzählte, sie habe während der Stunde auf die Toilette rennen müssen, um sich zu übergeben, nun ja, da ergab ein Wort das andere, was für ein schwacher Mensch denn aus ihr werden solle, und schließlich gab Edit Emma eine Ohrfeige, worüber sie dann gemeinsam weinten.
    Nach kurzem, aufgeregtem Wortwechsel hatten Emma und Emőke geklärt, dass sie jeweils von einem anderen Französischlehrer, also auch anderem Fußgeruch sprachen. Inzwischen hatten sich auch die anderen ins Gespräch eingeklinkt, und sie stellten fest, dass noch drei weitere in jüngeren Jahren dem gleichen Phänomen begegnet waren: Privatunterricht, später Nachmittag, Schreibtisch, Fußgeruch. Aber sie entdeckten auch, dass dieses Phänomen nicht nur bei Französischlehrern, sondern auch bei Lehrern anderer Fächer zu beobachten war. So erhielt der Fußgeruch einen gesellschaftlichen Hintergrund, um nicht zu sagen, eine historische Tiefe, denn letzten Endes war er, wie so vieles, auf die staatliche Mangelwirtschaft zurückzuführen: Östlich der Elbe gab es lange Zeit keine effektiven Mittel gegen Fußpilz, außerdem verschwand der Anspruch, auf seine Mitmenschen durch seine äußere Erscheinung einen guten Eindruck zu machen, allmählich aus der Gesellschaft, ebenso wie die Offenheit. Die angehenden Juristen kamen in dem Holzhaus auf dem Soproner Campingplatz natürlich nicht ganz bis zum gesellschaftlichen Hintergrund, aber die flüchtige Erkenntnis, dass sie über eine gemeinsame, die ganze Generation betreffende Erinnerung verfügten, erfreute jeden ein bisschen.
    Emma und Emőke waren da aber schon über alle Berge: Vertieft in ihr erstes großes Gespräch liefen sie durch die Soproner Nacht. Allein der Eiserne Vorhang vermochte es, ihrem Weg ein Ende zu bereiten, genauer gesagt, die Wächter der nahe gelegenen österreichisch-ungarischen Grenze: junge Soldaten in einem Geländewagen. Siezend belehrten sie die beiden Mädchen, dass diese den Grenzstreifen missachtet hätten, drohten ihnen mit einem Verfahren, schließlich kam es jedoch so, wie es zwischen zwei Studentinnen und zwei Grenzwächtern kommen musste, und die beiden jungen Männer schätzten sich glücklich, die Mädchen zum Campingplatz zurückfahren zu dürfen.
    All das erzählte Emőke Széles dem jungen, vom Regen durchnässten und namenlosen Psychiater bereits in der Wohnung

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