Liebe Unbekannte (German Edition)
die Bibliothek befand, die zu ihr gekommen war.
„Endre, ich habe deine Memoiren geschrieben.“
„Was hast du gemacht, Mara?“
„Ich habe deine Memoiren geschrieben, Endre, damit du dich nicht damit herumplagen musst. Du hast mir ja ausreichend über die Bibliothek und alles erzählt. In den Tagebüchern steht wortwörtlich das, was du über deine Arbeit erzählt hast. Es ist in erster Person Singular geschrieben, aber du bist derjenige, der da spricht. Der Titel lautet, wenn du damit einverstanden bist,
Endre Olbach: Mein Leben und das 20. Jahrhundert
. Was sagst du dazu?“
Onkel Olbach hatte sein ganzes Leben lang gearbeitet, seine Memoiren hatte er jedoch tatsächlich nie geschrieben. Die Arbeit in der Enzyklopädieredaktion, das Verfassen der Artikel, die Leitung des Instituts ließen ihm keine Zeit für irgendwelche Memoiren. Und, seien wir ehrlich, die meiste Zeit kostete es ihn, das, was er mit dem
Aufstieg des Morgenlandes
erschaffen hatte, wiedergutzumachen. Das hatte zwar nie jemand von ihm verlangt, dennoch hatte er das Gefühl, er müsse ein auf marxistischer Grundlage basierendes wirtschaftshistorisches Lebenswerk erschaffen, was ihm letztlich auch gelang: Sein Lebenswerk umfasste einige dicke Bände, allesamt anständige, gute historische Arbeiten, von der ersten bis zur letzten Seite, die bösen, neidischen und unheilvollen Geister Mitteleuropas waren aus ihnen jedoch verschwunden, sie jagten und preschten nicht mehr über ihre verhängnisvollen Wege, wie einst in der ersten Ausgabe von
Aufstieg des Morgenlandes
, die der gesamte Jahrgang des jungen namenlosen Psychiaters in fotokopierten Exemplaren gelesen hatte.
Also fiel es Emma nicht besonders leicht, auf die Frage zu antworten, was für ein Gefühl es eigentlich sei, die Enkelin des größten lebenden ungarischen Essayisten zu sein. Musste sie jedoch auch nicht mehr, da sie am Ring angekommen waren.
„Und warum willst du eine Muse sein?“
„Will ich doch gar nicht!“, sagte Emma lachend. „Das ist nur die Manie meiner Freundin.“
„Dann ist ja gut“, erwiderte der junge namenlose Psychiater. „Denn du bist eher diejenige, die eine Muse bräuchte. Und zwar schleunigst.“
„Wie meinst du das?“, fragte Emma und ihr Herz machte einen Sprung.
„Das ist so ein Gefühl.“
Mehr sagten sie nicht, denn Emmas Nachtbus kam. Sie stieg ein und achtete darauf, nicht zurückzublicken (das wäre ein fataler taktischer Fehler gewesen, vor allem, wenn sie zudem noch gewunken hätte!), deshalb sah sie auch nicht, dass der junge namenlose Psychiater, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass Emma nicht zurückblickte, ein Taxi heranwinkte. Das erfuhr sie auch später nicht, sie hielt es nur immer für wahrscheinlicher, dass es so gewesen sein musste, da der junge namenlose Psychiater stets mit dem Taxi fuhr, wenn er etwas getrunken hatte. Seine Mutter hatte einen Modesalon (einen der Läden, die neuerdings
Boutique
hießen), sein Vater ein Provinzkrankenhaus (er war dessen Leiter), er selbst hatte stets Geld, wofür er sich später, mit dem Wandel der Zeit, immer weniger schämte, ja, bald setzte er sich im Taxi auf den Rücksitz, nicht neben den Fahrer.
Dabei war er im gleichen Geist erzogen worden wie Emma und ich auch: Die Menschen sind gleich und Geld ist etwas leicht Schändliches. Wir besuchten ähnliche Schulen in der gleichen Zeit. Dennoch: Wenn Emma auf jemanden herabblickte, schämte sie sich dafür und das tut sie heute noch. Wenn sie zum Beispiel im Auto sitzt und in einem Taxi nebenan jemanden auf dem Rücksitz sieht, schaut sie sich dessen Gesicht gut an. Fühlt sich dieser Mensch etwa zu gut, um neben dem Fahrer zu sitzen?
Der Nachtbus der Linie 6 fuhr feierlich gerührt den Ring entlang: Er durfte ein zu Höherem berufenes Genie bis zur Üllői Straße befördern. Emma. Der junge namenlose Psychiater hatte sie zuerst richtig gekränkt, um ihr dann mit zwei Sätzen das Selbstbewusstsein zurückzugeben. Ihr Musentum, dieser lächerliche Kompromiss, war wie weggeblasen, sie würde also doch keine Muse werden! Den gesamten Heimweg über machte sie sich Gedanken über den Roman, den man nicht schreiben konnte – so wie früher.
Zu Hause kramte sie ihr Gedichtheft aus der Schreibtischschublade hervor. Als sie sich vor Jahren das
Etwas
zum letzten Mal angesehen hatte, hatte sie sich sehr geschämt: Was hatte sie an diesem furchtbaren Geschreibsel nur finden können? Aber jetzt – welch ein Wunder! – leuchteten die
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