Liebe Unbekannte (German Edition)
zugenickt: ja, ja, ja. Emma ahnte natürlich, dass sie ihr nicht recht gaben, sondern nur über die Straße stolperten, da diese von schlechter Qualität und die Stadt arm war, außerdem das Geld für jeden zweiten Doppelzentner Asphalt veruntreut wurde, trotzdem tat es ihr in dem Moment gut. Sie ließ sie vorbeifahren. Nickend fuhren sie ihrer Wege. Und bedeuteten ihr dabei mit den Bremslichtern: danke, danke, danke. Emma überquerte langsam die Straße.
Sie kam am Ende der durch den Wald führenden Serpentinstraße, am
Anlieger frei
-Schild an. Hier hielt sie für einen Augenblick inne, denn sie hatte ja nun gar kein Recht mehr, diese Straße zu betreten, sie hatte ja kein Anliegen, kein Ziel mehr, keine Berufung in der Welt, was letztlich nicht schlimm war, andere hatten ja ebenfalls keine, und das hatte sie schon immer gewusst. Dann lief sie dennoch auf der Straße in den Wald. Sie wollte hunderteins Schritte gehen und umkehren. Es war gar nicht so unheimlich, auf der leeren Straße im Wald zu spazieren. Es war windstill und ruhig.
Sie hatte achthunderteinundzwanzig Schritte getan, als sich ihr von vorne ein Motorengeräusch näherte. Wie verrückt rannte sie von der Straße. Zwischen die Bäume. Sie wartete, bis das Auto weggefahren war. Es war ein ganz gewöhnliches, verspätetes Auto. Wie Emma auch nichts anderes war, als eine gewöhnliche, verspätete Jurastudentin.
Sie setzte sich an den Wegrand.
Ihr Herz klopfte wie wild. Es war so ein gutes Gefühl, sich doch fürchten zu können. Als sie auf dem Bahnsteig gesessen hatte, hatte sie geglaubt, sich nun nie wieder fürchten zu können. Aber zum Glück konnte sie sich fürchten. Es war alles in Ordnung. Es war wirklich alles in Ordnung.
Und da geschah etwas Seltsames, dort, mitten im Wald. Genauer gesagt: Es geschah und geschah zugleich nicht. Genauer gesagt: Es begann. Genauer gesagt: Es begann, war jedoch auch schon seit einer Weile in Gange. Es war wie ein Stillstand des Windes. Oder eher, als wäre die Windstille in Bewegung gekommen. Es war zu wenig, um Etwas zu sein und zu viel, um Nichts zu sein.
Es war kein auffallendes Phänomen, obgleich es ohne Zweifel ein wenig gegen die Gesetze der Physik verstieß, wir wissen jedoch nur allzu gut, dass eine so weltgewandte, weise, alte Wissenschaft wie die Physik zuweilen sogar selbst gegen ihre eigenen Gesetze verstößt, manche auch vergisst, das Ganze ist ohnehin nicht so wichtig, schließlich hat jeder ein bisschen recht.
Es war die Donau, die da so eilig ankam, sie machte ihre übliche nächtliche Rundreise in ihrem Zuflussgebiet. Sie raste beinah. Sie hatte sich unten, im Flussbett, ein wenig verquatscht. Jetzt jagte sie über den János-Berg in Richtung Budakeszi. Sie hielt für einen Augenblick, beugte sich über die weinende Emma, hörte ihr zu, murmelte ihr sogar etwas ins Ohr, versuchte, sie zu trösten, doch dann eilte sie weiter, denn bis zum Morgengrauen hatte sie noch achtzig Millionen Seelen zu besuchen.
17.
TODESENTZÜNDUNG
Der königliche Palast von Buda wurde auf einem gut anderthalb Kilometer langen, schmalen, gerade verlaufenden Hügel erbaut. Dem sogenannten Burgberg. Der nördliche, größere Teil des Burgbergs wird von der mittelalterlichen Bürgerstadt eingenommen. Dieser Teil entfernt sich im spitzen Winkel von der Donau, aber das südliche Ende samt Palast erstreckt sich fast bis zum Donauufer. Aus entsprechender Entfernung sieht der Burgberg wegen des riesigen königlichen Palastes aus, als wäre ihm ein Kopf gewachsen, als wäre er ein großes, außerordentlich unzeitgemäßes Tier, das aus der Donau trinkt.
Sogar Gábor gab zu, dass das stimmte. Ich hätte damit das Wesen der Burg erfasst.
„Du hast Fantasie!“, sagte er anerkennend.
Wir fuhren gerade über die Elisabethbrücke. Die Burg war nur umständlich zu erreichen, deshalb war es einfacher, zunächst mit dem Bus der roten Linie 7 nach Pest, und von dort aus mit dem der Linie 78 nach Buda zurückzufahren. Das war der schnellste Weg, um in die Bibliothek zu kommen. Von der Brücke aus ergab sich die Perspektive, aus der es sich lohnte, Gábor Mutters Beobachtung zu erzählen, die Burg sehe aus, als tränke sie aus der Donau.
Und die Möglichkeit, diese Bemerkung zu machen, ergab sich, weil Gábor die Lektüre des Buchs der japanischen Geologen inzwischen beendet hatte. Er hatte auf dem gesamten Weg von Nyék bis Budapest gelesen. Das half ihm, weil er so lange wenigstens nicht an Kornél dachte, den er für tot
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