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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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dessen Auftauchen etwas zu bedeuten hatte, entweder politische Veränderungen oder genau das Gegenteil: Dass nämlich alles beim Alten bleiben würde. Er kam sich wie ein Messias vor, was ihm unangenehm war, denn er war kein Messias, obgleich man ihm gegenüber wiederholt diesbezügliche Andeutungen gemacht hatte, vor allem die jungen Frauen in Warschau und im vorübergehend Leningrad genannten Sankt Petersburg, den beiden Städten, in denen er Monate verbracht hatte.
    Der polnische Gastarbeiter, der schließlich für ihn dolmetschte, führte ihn in die erste Etage, wo er sich, dank Tante Gizellas schönen alten Deutschkenntnissen, in der Bibliothek anmeldete, obwohl er eigentlich nur Kornél hatte treffen wollen.
    Im königlichen Palast eine Feier zu veranstalten, ist unverantwortlich, selbst wenn wir diese
Nikolausball
nennen. Jeder weiß, dass die echten Bibliotheksleute nach einer Stunde einer nach dem anderen langsam nach Hause gehen und irgendwann nur noch zweifelhafte Gestalten übrigbleiben. Diesen schließen sich weitere zweifelhafte Gestalten an, die erst recht nichts mit der Bibliothek zu tun haben. Das war in jedem Jahr so gewesen – mit Ausnahme vom letzten, als der Ball – wegen des Bibliotheksumzugs – ausgefallen war. Das könnte als Präzedenzfall herangezogen werden, der es erleichtern würde, dieses Jahr das Ganze abzublasen. Diese Befürchtung hatten viele.
    Die Entscheidung für die Veranstaltung der Nikolausfeier hätte nur dadurch erleichtert werden können, dass es damals in der Korvin Bibliothek so gut wie keine Bücher mehr gab. Das bedeutete bei einer so großen und alten Bibliothek natürlich nicht, dass es kein einziges Buch gab, denn in der Széchényi Bibliothek gibt es bis heute Bücher mit dem Stempel der Korvin Bibliothek, ebenso, wie man in Budapest noch Bomben findet, die nicht explodiert sind, und auch in Zukunft finden wird, dabei ist das Kriegsende immer länger her. Dass es in der Korvin Bibliothek keine Bücher gab, bedeutete, dass mit Ausnahme eines Stockwerks, wo die Lagerräume waren (unter anderem mein Arbeitsplatz), sich überall im Gebäude der Bestand der Széchényi Landesbibliothek befand.
    Es waren alle Voraussetzungen gegeben, um einen Ball zu veranstalten. Die Lagerräume, die Lesesäle und die Forschungszimmer konnte man abschließen, die Eingangshalle konnte man über diverse Nebentreppenhäuser mit den halb fertigen, aber beheizbaren Dachbodenräumen verbinden. Theoretisch war das Gebäude von den Kellern bis zum Dachboden und vom Eingangstor bis zum Königinnenbalkon für den Ball bereit. Es gab wohl kaum einen Ort in der Stadt, der dafür besser geeignet gewesen wäre. Ja, vielleicht gab es sogar östlich der Elbe nirgends einen.
    Vielleicht fand er gerade deshalb schließlich doch nicht dort statt. Sondern im alten Bibliotheksgebäude auf der Pester Seite, in der Sándor-Bródy-Straße.
    Als Gábor und ich Kornéls Zimmer betraten, genauer gesagt zuerst bei ihm klopften und dann vom unter dem Dach verlaufenden Sims, wohin wir vom Baugerüst geklettert waren, durchs Fenster einstiegen, eröffnete sich uns das Karnevalsbild eines bacchantischen Festes.
    Es überraschte mich nicht. Ungefähr so hatte ich mir Kornéls Eckkuppel von innen vorgestellt. Samt bacchantischem Fest. Ganz anders Gábor! Ich sah, wie verdutzt er war. Seit der aus der Donau trinkenden Burg hatte ich mich irgendwie zunehmend auf Gábors Wellenlänge eingestellt.
    Mich faszinierte allein schon der Schauplatz. Das war gar kein Zimmer, sondern tatsächlich eine Eckkuppel, ein ungefähr acht mal acht Meter großer halbdunkler Raum mit verhältnismäßig kleinen Dachfenstern, es musste das Licht angeschaltet werden, dabei war es noch nicht einmal Mittag. Mit den acht anwesenden Personen (nach unserer Ankunft zehn) war der Raum jedoch brechend voll. Voller Rauch, Lärm und Musik. Die Hauptdarsteller der Szene waren in einem völlig entrückten Zustand. Es gab derer drei. Emőke Széles, die – was sie in keinem guten Licht erscheinen lässt, und was sie später sogar leugnete –, trotz der Schwangerschaft rauchte. Zu ihrer Entschuldigung sei gesagt, dass sie gezwungen war, ein
Gegenfeuer zu legen
, denn der Rauch im Raum war dichter als der, der durch eine Zigarette in ihrer Lunge entstand, also reinigte sie mit jedem Zug, den sie an ihrer Zigarette machte, ihre Lunge. Sie saß im Schneidersitz auf einer großen Matratze (das war das Bett), auf ihrem Schoß lag Kornéls Kopf, und sie rief,

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